3

[120] Seit alter Zeit her war des Hauses Wand

Von wuchernd dichtem Efeu überspannt;

Den liebt' der Bauer, sonst so liebeleer,

Weil er so gierig, alt und zäh wie er!


Nun brennt das dunkle Unkraut lichterloh

Und flackert in die Luft wie leichtes Stroh;

Wer glaubte, daß der alte, schwere Kranz

So lustig hielte seinen Totentanz?


Ei, was fliegt da für Ungeziefer aus!

In ganzen Schwärmen flieht die Fledermaus;

Kreuzspinnen, Käfer, was da kriechen mag,

Kommt sterbend in der hellen Glut zu Tag.


Was von Gespenstern und von Koboldsbrut,

Von alten Sünden auf dem Hause ruht,

Und was es sonst für Spuk und Sagen gab,

Brennt mit den alten Efeuranken ab.


Was mag wohl schimmern dort, und, seh ich recht?

Was löst sich aus dem brennenden Geflecht

Und poltert da zu meinen Füßen her?

Ein tüchtig Kruzifix, von Golde schwer!
[120]

Einst riß der Ahn, vor manchem Hundertjahr,

Das Kreuz als Bilderstürmer vom Altar;

Es blieb im grünen Rankenwerk versteckt,

Nun endlich hat's das Feuer aufgedeckt!


Zwar munkelt man, daß in verschloßner Brust

Die Enkel jederzeit davon gewußt;

Sie hätten's nächtlich auf den Tisch gesetzt

Und sich an dem Geflunker oft ergetzt.


Eins tut mir leid: manch zierlich Schwalbennest

Hing traulich in den wirren Ranken fest;

Wenn nun die liebe Schwalbe wiederkehrt,

So findet sie ihr kleines Haus verheert.


Doch tröste dich, o Schwalbe zart und traut!

Ist erst der neue Giebel aufgebaut:

G'nug Winkel noch und Ecken findest du,

Daran du bauen kannst in guter Ruh!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 120-121.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte: Eine Auswahl
Gedichte in einem Band
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Gottfried Keller's Traumbüchlein. Aufzeichnungen, Gedichte, Prosa