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[113] Der schönste Tannenbaum, den ich gesehn,

Das war ein Freiheitsbaum von fünfzig Ellen,

Am Schützenfest, im Wipfel Purpurwehn,

Aus seinem Stamme flossen klare Wellen.


Vier Röhren gossen den lebend'gen Quell

In die granitgehaune, runde Schale;

Die braunen Schützen drängten sich zur Stell

Und schwenkten jauchzend silberne Pokale.


Unübersehbar schwoll die Menschenflut,

Von allen Enden tönten Männerchöre;

Vom Himmelszelt floß Julisonnenglut,

Erglühnd ob meines Vaterlandes Ehre.


Dicht im Gedräng, dort an des Beckens Rand,

Sang laut ich mit, ein fünfzehnjähr'ger Junge;

Mir gegenüber an dem Brunnen stand

Ein braunes Mädchen von roman'scher Zunge.


Sie war zuhinterst vom Misokkertal,

Trug Alpenrosen in den schwarzen Flechten;

Sie füllte ihres Vaters Siegpokal,

Drein schien ihr Aug gleich Sommersternennächten.


Sie ließ in kindlich unbefangner Ruh

Vom hellen Quell den Becher überfließen;

Indessen wallten flatternd ab und zu

Die Fahnenzüg' mit buntem Wehn und Grüßen.


Als sie mich sah, warf sie mir wohlgemut

Aus ihrem Haar ein Röslein in den Bronnen,[114]

Schlug gegen mich in Wellen schlau die Flut,

Bis ich erfreut den Blumengruß gewonnen.


Ich fühlte da die junge Freiheitslust,

Des Vaterlandes Lieb im Herzen keimen;

Es wogt' und rauscht' in meiner Knabenbrust

Wie Orgelsturm von ries'gen Tannenbäumen.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 113-115.
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