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[106] Als endlich sie, nach langem, schwankem Lauf,

Am Grab noch hoben diesen Deckel auf:

In jenem Augenblick hab ich gesehn,

Wie just die Sonne schied im Untergehn.


Erleuchtet von dem abendroten Strahl

Sah ich all die Gesichter noch einmal,

Den Turmknopf oben in der goldnen Ruh –

Es war ein Blitz, sie schlugen wieder zu.


Ich sah auch zwischen Auf- und Niederschlag,

Daß Märzschnee dicht auf allen Gräbern lag;

Das Wetter muß seither gebrochen sein,

Denn feucht dringt es durch diesen engen Schrein.


Ich hör ein Knistern, wie wenn, mählich, leis,

Sich Schollen lösen aus des Winters Eis;

Ich hör ein feines Rieseln, wie wenn sacht

Das Erdreich aus dem starren Schlaf erwacht.


O wehe, wehe mir! nun darf es kühn

Hinaus in Gottes freien Himmel blühn!

O wehe mir! ich bin ja auch erwacht

Und kann nicht regen mich in Grabesnacht!


Wie jedes Samenkorn sich mächtig dehnt,

Der junge Halm nach jungem Licht sich sehnt,

So reck ich meinen armen, armen Leib –

Oh, 's ist ein fruchtlos grimmer Zeitvertreib!
[106]

Hört man nicht klopfen laut da obenwärts

Hier mein lebendiges begrabnes Herz?

O wüßten sie, wie es da unten tut!

Fluch über die gedankenlose Brut!


Wie munter quillt der kühle Erdensaft!

Lösch aus nur meines Lebens Fieberkraft!

Zu allen Fugen rinnt es mir herein,

Und oben ist's nun warmer Frühlingsschein.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 106-107.
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