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[24] Berghinan vom kühlen Grund

Durch den Wald zum Felsenknauf

Haucht des Frühlings leiser Mund,

Tausend Augen tun sich auf.


Sachte zittert Reis an Reis,

Langt hinaus, noch halb im Traum,

Langt und sucht herum im Kreis

Für drei grüne Blättlein Raum.


Doch mit lautem Wellensang

Weckt der Bach die Waldesruh:

Mitten drin, am jähen Hang,

Schläft ein Trumm von Nagelfluh;
[24]

Das einst hoch, am Silberquell,

In des Berges Krone lag,

Nieder führt' an diese Stell

Es ein solcher Frühlingstag:


Wo es hundert Jahre blieb

Hangen an der Eschenwurz;

Heute reißt der junge Trieb

Weiter es im Wellensturz!


Donnernd springt's von Stein zu Stein,

Trunken von der wilden Flut,

Bis es dort am Wiesenrain

Schwindelnd unter Blumen ruht.


Du versteinte Herrlichkeit!

O wie tanzest du so schwer

Mit der tollen Frühlingszeit –

Hinter dir kein Rückweg mehr!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 24-25.
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