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[36] Im Herbst, wenn sich der Wald entlaubt,

Nachdenklich wird und schweigend,

Mit Reif bestreut sein dunkles Haupt,

Fromm sich dem Sturme neigend:


Da geht das Dichterjahr zu End,

Da wird mir ernst zu Mute;

Im Herbst nehm ich das Sakrament

In jungem Traubenblute.


Da bin ich stets beim Abendrot

Allein im Feld zu finden,

Da denk ich fleißig an den Tod

Und auch an meine Sünden!


Ich richte mir den Beichtstuhl ein

Auf ödem Heideplatze,

Der Mond, er muß mein Pfaffe sein

Mit seiner Silberglatze.


Und wenn er grämlich zögern will,

Der Last mich zu entheben,

Dann ruf ich: »Alter, schweige still!

Es ist mir schon vergeben!


Ich habe heimlich mit dem Tod

Ein Wörtlein schon gesprochen!«

Dann wird mein Pfaff vor Ärger rot

Und hat sich bald verkrochen.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 36.
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