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[36] Im Herbst erblichen liegt das Land,

Und durch den dichten Nebel bricht

Der blasse Strahl von Waldes Rand,

Den Mond doch sieht man selber nicht.


Man weiß nicht, was die Helle macht,

So duftig weiß und doch nicht klar –

Die Freiheit wandelt durch die Nacht

Mit wallend aufgelöstem Haar!


Und wandelnd horcht sie still und lauscht,

Die bleiche, hohe Königin,

Und ihre Purpurschleppe rauscht

Leis über dunkle Gräber hin.


Sie hat gar eine reiche Saat

Verborgen in der Erde Schoß:

Sie späht, ob die und jene Tat

Nicht schon in grüne Halme sproß.


Sie drückt ein Schwert an ihre Brust

– Es blinkt im weißen Dämmerlicht –

Und bricht mit wehmutvoller Lust

Manch blutiges Vergißmeinnicht.


Es ist auf Erden keine Stadt,

Es ist kein Dorf, des stille Hut

Nicht einen alten Kirchhof hat,

Drin ein Märtyr der Freiheit ruht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 36-37.
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