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[15] Nun bin ich untreu worden

Der Sonne und ihrem Schein;

Die Nacht, die Nacht soll die Dame

Nun meines Herzens sein!


Sie hat eine düstere Schönheit,

Ein bleiches Nornengesicht,

Und eine Sternenkrone

Ihr dunkles Haupt umflicht.
[15]

Heut ist sie so beklommen,

Unruhig, voller Pein;

Sie denkt wohl an ihre Jugend –

Das muß ein Gedächtnis sein!


Es streicht durch alle Täler

Ein Stöhnen, klagend und bang;

Wie Tränenbäche rieseln

Die Quellen vom Bergeshang.


Die schwarzen Fichten sausen

Und wiegen sich her und hin,

Und über die feuchte Heide

Verlorene Lichter fliehn.


Den Sternen bringt ein Ständchen

Das dumpf erbrausende Meer,

Und über mir zieht ein Gewitter

Mit klingendem Spiele daher.


Es will vielleicht betäuben

Die Nacht den ewigen Schmerz?

Vielleicht an alte Sünden

Denkt sie mit reuigem Herz?


Ich möchte gern mit ihr plaudern,

Wie man mit dem Liebchen spricht –

Umsonst, in ihrem Grame

Sie sieht und höret mich nicht.


Ich möchte sie gerne fragen

Und werde doch immer gestört:

Ob sie vor meiner Geburt schon

Wo meinen Namen gehört?
[16]

Sie ist eine alte Sibylle

Und kennt sich selber kaum;

Sie, ich und der Tod und wir alle

Sind Träume von einem Traum!


Ich will mich schlafen legen,

Ein Morgenwind schon zieht;

Ihr weißen Rosen im Kirchhof,

Singt mir ein Wiegenlied!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 15-17.
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