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[80] Die Sonne fährt durchs Morgentor

Goldfunkelnd über den Bergen,

Und, wie zwei Veilchen im frühen Mai,

Zwei blaue Augen, klar und frei,

Die lachen auf ihren Wegen

Geöffnet ihr entgegen!


Glück auf! mein Liebchen ist erwacht

Mit purpurroten Wangen!

Ihr Fenster glitzert im Morgenstrahl,

Und alle Blumen in Garten und Tal

Erwarten sie mit Sehnen,

Die Äuglein voller Tränen.
[80]

Es ist nichts Schöneres in der Welt

Als diese grüne Erde:

Wenn man darauf ein Schätzlein hat,

Das still und innig, früh und spat

Für einen lebt und blühet,

Ein heimlich Feuerlein, glühet!


Hallo, du schläfriger Jägersmann,

Wie reibst du deine Augen!

Ich hab die ganze Nacht durchschwärmt

Und mich am Mondenschein gewärmt

Und steige frisch und munter

Von meinem Berg herunter!


Mein Mädchen durch den Garten geht

Und singt halblaute Weisen;

Mich dünkt, ich kenne der Lieder Ton:

Was gilt's, ich habe sie alle schon

Heut nacht dort oben gesungen?

Sie sind herübergeklungen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 80-81.
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