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[85] Schon war die letzte Schwalbe fort

Und längst seit vielen Wochen auch

Die letzte Lilie abgedorrt,

Nach altem Erdenbrauch.


Es flimmerte der Buchenhain

Wie Rauschgold rot im Abendlicht –

Herbstsonne gibt gar sondren Schein,

Der stets ins Herz mir sticht.
[85]

Ich traf sie da im Walde an,

Nach der allein mein Herz begehrt,

Mit weißen Kleidern angetan,

Vom goldnen Schein verklärt.


Sie war allein; doch grüßt ich sie

Nur ehrfurchtsvoll im Weitergehn,

Weil ich sie, seit ich liebte, nie

So still und schön gesehn!


Doch schaut' aus ihrem Angesicht

Ein fremdes Etwas kalt hervor;

Es lag vor ihrer Augen Licht

Wie leichter, dunkler Flor.


Es war, als ob dicht hinter ihr

Ein Schatten schwebt' im Abendstrahl,

Der gaukelnd, lachend gegen mir,

Ihr folgte durch das Tal.


»Mir ist ein Rival aufgewacht!«

Sprach ich und sah ins Abendrot,

Bis es erlosch und bis die Nacht

Die kalte Hand mir bot!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 85-86.
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