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[90] Durch den Garten, in die Felder

Irre ich mit dunkeln Augen,

Achte nicht, wie tausend Kelche

Licht und Äther um mich saugen.

Muß der Mai mit holdem Lachen

Mir denn eine Leiche geben,

Während meine Freunde haschen

Neue Liebe, warmes Leben?


Aber sagt, wie kommt es mir denn,

Daß durch meines Grames Schatten

Doch die Sonnenstrahlen dringen

Und sich mit den Schmerzen gatten?

Daß der Lenz mit seinen Reizen

Mir noch zehnmal üpp'ger scheinet

Und mit seinem alten Schmucke

Eine neue Schönheit einet?


Ja, die todeskranke Liebe

Einen Geisterabglanz gießet

Über all die Lenzesfülle,

Die da drängt und blüht und sprießet!

Hunderttausend Blumen wollen

Ihr die letzte Ehre geben,

Und noch viel mehr Knospen eilen,

Solche Feier zu erleben.


Sehet da, die weißen Lilien

Sind vor ihrer Zeit gekommen,

Als sie von der Blumentrauer

Rings im weiten Land vernommen;

Ihre Schwester zu begleiten,

Blühen sie in langen Reihen,[91]

Während sie aus ihren Kelchen

Weihrauch in die Lüfte streuen.


Und die Abendröte schlingt sich

Schön in rosigen Girlanden

Um die hohen Silberberge,

Die noch eben sonnig standen;

Und der Hesperus dort funkelt

Als der Zeremonienmeister,

Rufend in die weiten Sphären

Alle guten Sternengeister!


Alle Silberbronnen klingen,

Alle Nachtigallen schlagen –

Jetzt seh ich die Blumenleiche

Schwankend über die Auen tragen;

Morgenröten, Abendröten,

Wetterleuchten, Regenbogen,

Alles Schöne kommt der Bahre

Trauerfunkelnd nachgezogen!


Sagt, wann wird der Täuschung Schleier

Endlich mir vom Aug gehoben?

Unverwüstlich sind die Dichter,

Alles wird zum Traum verwoben;

Selbst der nahe Tod wird spielend

Noch mit Schein und Tand umschlungen –

Oh, ich glaube, er ist eben

Eisig in ein Herz gedrungen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 90-92.
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