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[98] Sieh! kaum glimmt des Stromes Spiegel

Silbermatt im Dämmerlicht,

Und schon schlägt die Sammetflügel

Mir ein Falter ins Gesicht!


Sieh den Abendstern dort blinken

Ungewöhnlich schön und hell!

Lieblich ist und klar zu trinken

Dieser Nachtluft kühler Quell.


Komm heraus, du junges Leben!

Komm, so leis dein Fuß dich trägt!

Recht in Lieb und Traum zu schweben

Wär ich jetzo aufgelegt.


Und ich habe dir zu Ehren

Einen guten Freund gebracht:

Er will uns die Minne lehren

Durch die kurze Sommernacht.


Liebeslieder sollen schallen,

Die vor siebzig Jahren schon

Unsern Mütterlein gefallen;

Rein klingt ihrer Weise Ton.


Laß uns einmal rückwärts fliegen

In die Zeit, die still und fern!

Dieser Laune dich zu schmiegen,

Weiß ich, tust du zwiefach gern! –


– »Sie kommt nicht?« fragt mein Begleiter,

»Und schon wird es morgenrot!« –[99]

Ach, 's ist wahr! so sag ich weiter,

Denn sie ist, wie du, schon tot!


Armer Hölty! Du kannst gehen!

Traurig such dein kühles Haus!

Sieh, das frische Morgenwehen

Lacht uns alte Kinder aus!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 98-100.
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