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An einen Freund

[45] Du, der so lang im Herzen mich geborgen

Mit allen meinen grämlichen Gebrechen,

Mit meinen hastig immer neuen Schwächen,

Mit allen meinen wunderlichen Sorgen;
[45]

Die Hand verzeihend botest jeden Morgen,

Wenn ich die Nacht vorher mit blindem Stechen,

Mit ungerechtem, vorwurfsvollem Sprechen

Dir schnitt ins Herz, so treu und unverborgen:


Nicht um zu spähn nach Tadel oder Lobe,

Will ich dir diese Lieder übersenden,

Die zagend unter meiner Hand verblassen!


Nein, nur zur letzten, schweren Freundesprobe:

Ich muß mich gegen deinen Glauben wenden –

Wirst du mich darum endlich doch verlassen?


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 45-46.
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