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Wer ohne Schmerz, der ist auch ohne Liebe,

Wer ohne Leid, der ist auch ohne Treu,

Und dem nur wird die Sonne wolkenfrei,

Der aus dem Dunkel ringt mit heißem Triebe.


Bei euch ist nichts als lärmendes Geschiebe,

In wildem Tummel trollt ihr euch herbei

Und meßt das Erdreich ohne heil'ge Scheu,

Als ob zu hoffen kein Kolumb mehr bliebe!


Euch ist der eigne Leichnam noch nicht klar,

Ihr kennet kaum den Wurm zu euren Füßen,

Die Blume nicht, die sproßt aus eurem Grab.


Doch hüpfet ihr und krönt mit Stroh das Haar,

Gedankenlos als Götter euch zu grüßen;

Der Zweifel fehlt – und das bricht euch den Stab!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 59.
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