Am Himmelfahrtstag

[180] 1846


Ausgestorben scheint die Stadt,

Weil, was Freude fühlt und Leben

Und ein gläubig Herz sich heben,

Sich hinaus begeben hat

Auf den See und auf die Berge;

Angefüllt wird jedes Tal;

Rühren muß sich Wirt und Ferge

In dem warmen Maienstrahl.
[180]

Von des Daches Giebel schau

Ich hinaus, o welch Gewimmel!

Ja, die Erde trägt gen Himmel

Menschenherz und grüne Au!

Siehe, wie lebend'ge Fahnen

Flattern dort am Berggeländer

Kinder, bunte Lenzgewänder,

Unter grünenden Platanen!


Einsam wehen hier die Linden

Dieser Stadt um stille Dächer –

Ach, wie einen leeren Becher

Muß ich die verlaßne finden,

Einen Becher, dessen Schein

Wird geflohn von jedem Munde

Und auf dessen dunklem Grunde

Ich der letzte Tropfen Wein!


In die kühle Dämmernacht

Meines Hauses steig ich nieder,

Wo mir meine jungen Lieder

Schlummern, bis ihr Tag erwacht;

Wo ein Strauß von Blütenzweigen

Drüber nickt mit stillem Neigen,

Mit erwartungsvollem Schweigen

Junge Rosen halten Wacht.


Was ich lange zögernd mied:

Nun in tiefer Einsamkeit

Schreib ich dieses letzte Lied,

Schlußton meiner Jugendzeit.–-

Und der Hoffnung sei's geweiht,

Was ich hoffe, hofft die Welt!

Preis ihr, wenn sie endlich hält

Sich zur Himmelfahrt bereit!
[181]

O sie braucht nicht weit zu fahren,

Die den Himmel in sich wahrt:

Selbst sich einmal offenbaren,

Ist die ganze Himmelfahrt!

Sie ist wie ein Heil'genschrein:

Außen lieblich bunt bemalet,

Doch verdeckt im Innern strahlet

Pures Gold und Edelstein.


Tu dich auf, o schöner Schrein,

Lasse deine Schätze funkeln!

Laß sie, blitzend hell, verdunkeln

Der Märtyrer blaß Gebein! –

Freiheitschwanger sind die Lüfte:

Flieg hinaus, mein Schwalbenzug!

Flattre hin, mein Liederflug,

Klingend durch die Frühlingsdüfte![182]

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 180-183.
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