An Lenau

[160] Welk lag meines Herzens Garten,

Und sein Springquell war versiegt,

Und das Liedervolk in Zweigen

Saß in dumpfen Schlaf gewiegt.


Starr und klanglos schien mir alles

Und der frische Duft entflohn!

Selbst die fremden Lieblingsweisen

Hatten für mich keinen Ton.


Wie es oftmals geht im Leben,

Das so seltsam webt und flicht:

Längst schon kannt ich deinen Namen,

Aber deine Lieder nicht.


Und nun las ich sie; auf einmal

In so öder Winterzeit

Ging mir auf ein neuer, reicher

Lenz in seiner Herrlichkeit!


Und in deinen Geistesblüten

Warst du wie ein Nekromant,

Der für meinen eignen Zauber

Wieder mir das Schlagwort fand.


Rasch entfesselt sprang der Bronnen!

Alle Lauben voller Sang!

Und in den geheimsten Gängen

War es wieder Duft und Klang.


Damals wünscht ich, daß ich möchte

Ein begabter Sänger sein,

Um dir recht ein weich und lindernd,

Ein vergeltend Lied zu weihn!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 160-161.
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