Meer

[140] Der Himmel hängt, wie Blei so schwer,

Dicht auf dem wildempörten Meer;

Ein englisch Segel, fast die Quer,

Schießt wie ein Pfeil darüber her.
[140]

Ein Messer, so das Meer sich schliff,

Da starrt ein blankes Felsenriff

Und schlitzt das Engelländerschiff –

Das Meer tut einen guten Griff.


Viel tausend Bibeln sind die Fracht,

Die sinken in die Wassernacht;

Schon hat in düstrer Schuppenpracht

Das Seevolk sich herbeigemacht.


Da wimmelt es von Schlang und Fisch,

Sie sitzen am Korallentisch;

Her schießt der Leviathan risch:

»Was ist das für ein Flederwisch?«


Die Meerschlang, als die Königin,

Kommt auch und blättert her und hin;

Sie alle lesen emsig drin

Und forschen nach dem dunkeln Sinn.


Sie ziehn den Missionär empor

Und halten ihm die Bibel vor;

Doch der zu schweigen sich verschwor –

Das Meer durchbraust sein totes Ohr.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 140-141.
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