2. Einer Verlassenen

[17] Wir haben deinen tiefen Gram vernommen

Und sind in deinen Garten still gekommen,

Wir stimmen unsre Saiten mit Bedacht,

Erwartend lauscht die laue Maiennacht.


Zu deines Ungetreuen Reu und Leide,

Zu deiner Nachbarinnen bitterm Neide,

Zu deiner Mutter Stolz und stiller Lust,

So wollen singen wir aus voller Brust!


Zünd an dein Licht, daß unser Lied dich ehre

Und vor dem Sternenzelt dein Leid verkläre!

Noch gibt's manch Auge, das in Treuen blitzt,

Manch Herz, das noch an rechter Stelle sitzt!


Wohl selig sind, die in der Liebe leiden,

Und ihrer Augen teure Perlen kleiden

Die weißen Wangen mehr als Morgentau

Die Lilienkelche auf der Sommerau.


Die Liebe, die um Liebe ward betrogen,

Glänzt hoch und herrlich gleich dem Regenbogen;

Zu seinen Füßen, die in Blumen stehn,

Da liegen goldne Schüsseln ungesehn.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 17.
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