In Duft und Reif

[49] Im Herbst verblichen liegt das Land,

Und durch die grauen Nebel bricht

Ein blasser Strahl vom Waldesrand,

Den Mond doch selber sieht man nicht.


Doch schau! der Reif wird Blütenstaub,

Ein Lorbeerhain der Tannenwald,

Das falbe, halb erstorbne Laub

Wie bunte Blumenwogen wallt!


Ist es ein Traumbild, das mir lacht?

Ist's Frühlingstraum vom neuen Jahr? –

Die Freiheit wandelt durch die Nacht

Mit wallend aufgelöstem Haar!


Und wandelnd späht sie rings und lauscht,

Die bleiche, hohe Königin,

Und ihre Purpurschleppe rauscht

Leis über dunkle Gräber hin.


Sie hat gar eine reiche Saat

Verborgen in der Erde Schoß;

Sie forscht, ob die und jene Tat

Nicht schon in grüne Halme sproß.


Sie drückt ein Schwert an ihre Brust,

Das blinkt im weißen Dämmerlicht;

Sie bricht in wehmutvoller Lust

Manch blutiges Vergißmeinnicht. –
[50]

– Es ist auf Erden keine Stadt,

Es ist kein Dorf, des stille Hut

Nicht einen alten Kirchhof hat,

Darin ein Freiheits-Märtrer ruht.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 49-51.
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