Eröffnungslied am eidgenössischen Sängerfest

[185] 1858


Wir haben hoch im Bergrevier

Den Tannenwald gehauen,

Draus euch in rot und weißer Zier

Das Wanderzelt zu bauen.

Herein, was nun die Halle faßt,

O Schweizerkind! du deutscher Gast!

Und wie's im Bergwald kühn erklang,

Laßt rauschen hier den Männersang!


Die grauen Adler schrieen wild,

Seit wir zuletzt gesungen;

Da ist der Freiheit Silberschild

Gar hell und rein erklungen!

Wir kehrten ein ins eigne Herz,

Da löst' sich jeder Groll und Schmerz,

Da hatte sich die Treu gelohnt,

Der Rat, der stet im Manne wohnt.
[185]

Es ward geraten, ward gebraut

Auf aller Herren Gassen;

Doch jeder tat da, still wie laut,

Was er nicht konnte lassen!

Ein Mehrer seines Reichs zu sein,

Dünkt sich der Fürst im blut'gen Schein;

Wir mehrten nur im Heimatland

Den Menschenwert mit reiner Hand!


Erhebt die Stimmen froh und hell!

Ringt um des Preises Schale!

Dann setzt euch an den Purpurquell,

Singt abermals beim Mahle!

Und singt: Das Land ist eben recht,

Ist nicht zu gut und nicht zu schlecht,

Ist nicht zu groß und nicht zu klein,

Um drin ein freier Mann zu sein!


Wie grüne Aun im Firnenschnee

In alter Zeit verschwunden,

So hat noch jedes Volk das Weh

Des Endes auch empfunden;

Doch trotzen wir dem Untergang

Noch langehin mit Sang und Klang!

Noch halten wir aus eigner Hand

Dich hoch empor, o Vaterland!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 185-186.
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