Für ein Gesangfest im Frühling

[211] 1878


Jetzt ist des Winters grimmer Frost

Entflohen aus den Landen

Und rings der reiche Blumentrost

In Feld und Hag erstanden;

Und singt auch keine Nachtigall

Im weiten Tal mit süßem Schall,[211]

So gehn wir Leute selber dran

Und stimmen hell das Lenzlied an!


Die Zeit ist rauh und schwer der Tag,

An Not und Neid kein Mangel;

Es zuckt das Herz mit bangem Schlag

Wie 's Fischlein an der Angel;

Doch steht die Welt in Sorgen still,

Und wenn sich keiner fassen will,

So gehn wir Leute dennoch dran

Und heben laut das Lenzlied an!


Verschließt des Kummers dunkle Gruft

Und stellet ein das Klagen!

Laßt lieber uns die Maienluft

Mit seidnen Fahnen schlagen!

So treiben wir den Teufel aus,

Schon wird es frei und licht im Haus!

Wir aber reihn uns Mann zu Mann

Und heben froh das Lenzlied an!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 211-212.
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