Kantate

zum fünfzigjährigen Jubiläum der Hochschule Zürich

[247] Das Urmaß aller Dinge ruht

In Händen nicht, die endlich sind,

Es liegt verwahrt in Schatzgewölben,

Die kein vergänglich Auge schaut.

Wir führen Waage, Stab und Uhr,

Und was wir wägen, schwindet hin;

Darum mit ehrerbiet'ger Scheu

Gebrauchen wir das Maß der Zeit

Und rufen hoher Jahre Zahl

Mit Weihefesten an.
[247]

Ein halbes Jahrhundert –

Was ist es, ihr Brüder?

Ein Hauch, wie ein ganzes

Und wie ein Jahrtausend!

Doch wenn es das erste,

Dann winden wir schmeichelnd

Und rühmend den Kranz.


Das eigne Erinnern

Umfängt uns die Seele,

Die Jahre der Jugend

Sind lange dahin,

Indessen die neuen

Geschlechter erblühten.


Es ragt uns die Burg mit

Den Ämtern des Wissens,

Wir sahn noch die Stifter

Und sahn die Genossen

Die Halle durchschreiten,

Geschlecht auf Geschlecht.


Wo sind sie geblieben,

Sie all, die gekommen

Und wieder geschieden,

Zu lehren, zu lernen?

Sie ruhen in Gräbern,

Zerstreut auf der Erde

Und hier in der Heimat.


Doch mancher, er hält noch

In schneeigen Locken

An fernen Altären

Der Weisheit die Wacht;

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 247-248.
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