Schlußgesang

am Volkstage in Solothurn für Annahme der abgeänderten Bundesverfassung

[198] 1873


Schließt auf den Ring, drin wir in Frieden tagten,

Aus treuer Brust entbietend unsern Rat!

Die Zweifel fliehn, die lang am Herzen nagten,

Und mit uns schreitet froh der Geist der Tat.

Es muß, laßt's laut erschallen,

Die letzte Zwingburg fallen!

Dann wall empor aus deiner dumpfen Gruft,

O Seele, frei, wie Gottes goldne Luft!


Von Bergen rauscht's wie unsichtbare Fahnen,

Von Flühen ruft's wie leise Geisterwacht;

Gelagert lauscht das Schattenheer der Ahnen,

Die uns den Leib von Ketten frei gemacht.

Nun tönt ihr Sang hernieder

Und hallt vom Felsen wider:

Laß dich nicht reun, lebendiges Geschlecht,

In deiner Zeit zu finden auch dein Recht!


Tut auf den Ring und zieht ihn weit und weiter

Durch tausend Boten über Berg und Tal![198]

Bald glüht der Bund und flammet stet und heiter,

Den Völkern all ein friedlich Feuermal.

Was schlecht ist, soll zerrinnen,

Die Lüge nicht gewinnen!

Ein furchtlos Herz und offne Bruderhand

Gewinnt den Sieg im alten Heimatland!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 198-199.
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