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[115] Wie poltert es! – Abscheuliches Geroll

Von Schutt und Erde, modernden Gebeinen!

Ich kann nicht lachen und kann auch nicht weinen,

Doch nimmt's mich wunder, wie das enden soll!


Nun wird es still. – Sie trollen sich nach Haus

Und lassen mich hier sieben Fuß tief liegen:

Nun, Phantasie! laß deine Adler fliegen,

Hier schwingen sie wohl nimmer mich hinaus!


Das ist jetzt eine wunderliche Zeit!

Im dunklen Grab kein Regen und kein Rühren,

Indes der Geist als Holzwurm mag spazieren

Im Tannenholz – ist das die Ewigkeit?


Die Menschen sind ein lügnerisch Geschlecht

Und haben in das Grab hinein gelogen,

Den ernsten Moder schnöd mit mir betrogen –

Weh, daß die Lüge an sich selbst sich rächt!


Die Lügner gehn von hinnen ungestraft,

Ach, aber ich, die Lüge, muß bekleiben,

Daß sich der Tod ergrimmt an mir kann reiben,

In Tropfen trinkend meines Lebens Kraft!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 115.
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