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[92] Im Mittagsglast, auf des Gebirges Grat

Schlief unter alten Fichten müd ich ein;

Ich schlief und träumte bis zum Abendschein

Von leerem Hoffen und verlorner Tat.
[92]

Schlaftrunken und verwirrt erwacht ich spat:

Gerötet war ringsum Gebüsch und Stein,

Des Hochgebirges Eishaupt und Gebein,

Der Horizont ein sprühend Feuerrad.


Und rascher fühlt ich meine Pulse gehen,

Ich hielt die Glut für lichtes Morgenrot,

Erharrend nun der Sonne Auferstehen.


Doch Berg um Berg versank in Schlaf und Tod,

Die Nacht stieg auf mit frostig rauhem Wehen

Und mit dem Mond des Herzens alte Not.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 92-93.
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