Ich hab in kalten Wintertagen

[163] Ich hab in kalten Wintertagen,

In dunkler, hoffnungsarmer Zeit

Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,

O Trugbild der Unsterblichkeit!


Nun, da der Sommer glüht und glänzet.

Nun seh ich, daß ich wohlgetan;

Ich habe neu das Herz umkränzet,

Im Grabe aber ruht der Wahn.


Ich fahre auf dem klaren Strome,

Er rinnt mir kühlend durch die Hand;

Ich schau hinauf zum blauen Dome –

Und such kein beßres Vaterland.


Nun erst versteh ich, die da blühet,

O Lilie, deinen stillen Gruß,

Ich weiß, wie hell die Flamme glühet,

Daß ich gleich dir vergehen muß!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 163.
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