4. Ich fürcht nit Gespenster

[337] Ich fürcht nit Gespenster,

Keine Hexen und Feen,

Und lieb's, in ihre tiefen

Glühaugen zu sehn.


Am Wald in dem grünen

Unheimlichen See,

Da wohnet ein Nachtweib,

Das ist weiß wie der Schnee.
[337]

Es haßt meiner Schönheit

Unschuldige Zier;

Wenn ich spät noch vorbeigeh,

So zankt es mit mir.


Jüngst, als ich im Mondschein

Am Waldwasser stand,

Fuhr sie auf ohne Schleier,

Ohne alles Gewand.


Es schwammen ihre Glieder

In der taghellen Nacht;

Der Himmel war trunken

Von der höllischen Pracht.


Aber ich hab entblößet

Meine lebendige Brust;

Da hat sie mit Schande

Versinken gemußt!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 337-338.
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