8. Wandl' ich in dem Morgentau

[340] Wandl' ich in dem Morgentau

Durch die dufterfüllte Au,

Muß ich schämen mich so sehr

Vor den Blümlein rings umher!
[340]

Täublein auf dem Kirchendach,

Fischlein in dem Mühlenbach

Und das Schlänglein still im Kraut,

Alles fühlt und nennt sich Braut.


Apfelblüt im lichten Schein

Dünkt sich stolz ein Mütterlein;

Freudig stirbt so früh im Jahr

Schon das Papilionenpaar.


Gott, was hab ich denn getan,

Daß ich ohne Lenzgespan,

Ohne einen süßen Kuß

Ungeliebet sterben muß?


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 340-341.
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