1. Verlornes Recht, verlornes Glück

[379] Recht im Glücke! goldnes Los,

Land und Leute machst du groß!

Glück im Rechte! fröhlich Blut,

Wer dich hat, der treibt es gut!


Recht im Unglück! herrlich Schaun,

Wie das Meer im Wettergraun!

Göttlich grollt's am Klippenrand,

Perlen wirft es auf den Sand!


Einen Seemann, grau von Jahren,

Sah ich auf den Wassern fahren,

War wie ein Medusenschild

Der erstarrten Unruh Bild.


Und er sang: »Vieltausendmal

Glitt ich in das Wellental,

Fuhr ich auf zur Wogenhöh,

Ruht ich auf der stillen See!


Und die Woge war mein Knecht,

Denn mein Kleinod war das Recht;

Gestern noch mit ihm ich schlief –

Ach, nun liegt's da unten tief!


In der dunklen Tiefe fern

Schimmert ein gefallner Stern;

Und schon ist's wie tausend Jahr,

Daß das Recht einst meines war.
[379]

Wenn die See nun wieder tobt,

Keiner mehr den Meister lobt:

Hab ich Glück, verdien ich's nicht,

Glück wie Unglück mich zerbricht!«


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 379-380.
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