Der Narr des Grafen von Zimmern

[396] Was rollt so zierlich, klingt so lieb

Treppauf und -ab im Schloß?

Das ist des Grafen Zeitvertrieb

Und stündlicher Genoß:

Sein Narr, annoch ein halbes Kind

Und rosiges Gesellchen,

So leicht und luftig wie der Wind,

Und trägt den Kopf voll Schellchen.


Noch ohne Arg, wie ohne Bart,

An Possen reich genug,

Ist doch der Fant von guter Art

Und in der Torheit klug;

Und was vergecken und verdrehn

Die zappeligen Hände,

Gerät ihm oft wie aus Versehn

Zuletzt zum guten Ende.


Der Graf mit seinem Hofgesind

Weilt in der Burgkapell,

Da ist, wie schon das Amt beginnt,

Kein Ministrant zur Stell;[396]

Rasch nimmt der Pfaff den Narrn beim Ohr

Und zieht ihn zum Altare;

Der Knabe sieht sich fleißig vor,

Daß er nach Bräuchen fahre.


Und gut, als wär er's längst gewohnt,

Bedient er den Kaplan;

Doch wenn's die Müh am besten lohnt,

Bricht oft der Unstern an:

Denn als die heil'ge Hostia

Vom Priester wird erhoben,

O Schreck! so ist kein Glöcklein da,

Den süßen Gott zu loben!


Ein Weilchen bleibt es totenstill;

Erbleichend lauscht der Graf,

Der gleich ein Unheil ahnen will,

Das ihn vom Himmel traf.

Doch schon hat sich der Narr bedacht,

Den Handel zu versöhnen:

Die Kappe schüttelt er mit Macht,

Daß alle Glöcklein tönen!


Da strahlt von dem Ciborium

Ein goldnes Leuchten aus;

Es glänzt und duftet um und um

Im kleinen Gotteshaus,

Wie wenn des Himmels Majestät

In frischen Veilchen läge:

Der Herr, der durch die Wandlung geht –

Er lächelt auf dem Wege!«


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 396-397.
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