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[311] Rinne sanft, du weiche Welle,

Schöner Flachs, durch meine Hände,

Daß ich dich mit stiller Schnelle

Fein zum goldnen Faden wende!


Du Begleiter meiner Tage

Wirst nun bald zum Tuch erhoben,

Dem ich alle Lust und Klage

Singend, betend eingewoben.


Wie so schwer bist du von Tränen,

Schwer von Märchen und von Träumen,

Wie so schwer vom schwülen Sehnen

Nach des Lebens Myrtenbäumen!


Ahnt wohl er, du traute Linne,

Welch geheimnisvolle Dinge,

Welchen Schatz der tiefsten Minne

Ich mit dir ins Haus ihm bringe?


Kühler Balsam seinen Wunden

Sollst du werden, mein Gewebe –

Wohl ihm, daß er mich gefunden

Unter dieses Gartens Rebe!


Wie durchdringt mich das Bewußtsein,

Daß ich ganz sein Glück soll werden

Und das Kleinod seiner Brust sein

Und sein Himmel auf der Erden!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 311.
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