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[274] Ich bete in der Frühe

Und jeden Abend wieder,

Damit ich fromm erglühe,

Hafisens süße Lieder.


Ich murmle sie beständig

Im Pharisäermunde;

Denn sie sind nicht lebendig

Auf meiner Seelen Grunde.
[274]

Wie einst ich meinem Gotte

Tugend und Treu versprochen

Und täglich ihm zum Spotte

Dennoch mein Wort gebrochen,


So brech ich jetzo wieder

Mein Wort, das ich gegeben,

Und halle heuchelnd wider

Hafisens Jubelleben,


Indes ich kalt und nüchtern

Und gramvoll mich erbittre,

Indes ich stumm und schüchtern

In meinem Herzen zittre!


Ich fühl's, nach allen Seiten

Ist Heuchelei vom Bösen;

Drum gilt's, das eigne Streiten

Von Pfaffentum erlösen!


Hast Freude du empfangen,

So freu dich ohne Prahlen!

Und will dich Nacht umfangen,

Schäm nicht dich ihrer Qualen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 274-275.
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