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[269] Ich sah zwei Gräber auf der Heide,

Von Immortellen ganz bedeckt;[269]

Ein schönes Weib mit schwerem Leide

Lag auf dem einen hingestreckt.

Das andre hielt in heißen Tränen

Ein gramerfüllter Mann bewacht,

Und beide sahn voll Liebessehnen

Auf in die klare Sternennacht.


»In jenen selig heitren Fernen

Harrt nun die liebste Seele mein,

Bald werd ich unter goldnen Sternen

Auf ewig, ewig bei ihm sein!

Als einen Hauch und Seufzer zähle

Ich noch die Spanne schnöder Zeit;

Dann aber sind so Lieb wie Seele

Ganz der Unsterblichkeit geweiht!« –


»O kreiset rascher, träge Sonnen,

Und löset dieses Leibes Bann,

Daß ich auf euch in neuen Wonnen

Mein selig Liebchen finden kann!

Heil mir! ich will sie wiedersehen!

Und wenn auch Stern um Stern zerbricht:

In Ewigkeit wird nie vergehen

Zwei treuer Seelen Bund und Licht!«


So riefen Weib und Mann, so beide,

Ganz in den eignen Gram gebannt;

Sie sahn sich nicht auf dunkler Heide,

Die Blicke sternenwärts gewandt.

Sie trauerten, bis daß der Morgen

Erbleichen ließ der Sterne Schar,

Der Höhe Blau das Gold verborgen

Und es auf Erden heiter war.
[270]

Da rafften sie sich auf und gingen

Entlang das schimmernde Gefild,

Bis plötzlich ihre Augen hingen

Eins an des andern schönem Bild.

Und eh der junge Tag, der warme,

Die letzten Tränen weggeküßt,

Schon fielen lächelnd in die Arme

Sich beide, Lust in Lust gebüßt.


Der Enkel Trupp mit festen Händen,

Auf selber Heid im Sonnenschein,

Sah pflügen ich und singend wenden

Ein längst verschollenes Gebein.

Sie deckten rasch, was sie gefunden,

Mit jungen Saaten, im Gemüt

Leis ahnend, daß die eignen Stunden

Aus diesem Tode nur erblüht.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 269-271.
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