Elftes Kapitel

Die Maler

[482] Gehe ich mit der Erinnerung meinem damaligen Wandel nach, so gestaltet sich derselbe erst um die Zeit wieder etwas deutlicher, wo ich gegen anderthalb Jahre am Musenorte mehr oder weniger inkognito zugebracht. Denn weder meine Vorbereitung noch meine Lebenskunde waren geeignet gewesen, mein Tun und Lassen rasch in eine feste Form zu leiten.

In diesem Übergangsschatten herumsuchend, sehe ich mich eines Nachmittags bei guter Zeit die Palette reinigen und die Pinsel auswaschen, mit denen ich den Kampf mit einem auf Hörensagen begonnenen Ölmalen führte. Ich sehe mich noch den schlichten breitrandigen Hut ergreifen, den ich längst statt[482] des sentimentalen Sammetbarettes trug, und den Weg zu einem neuen Bekannten antreten, um denselben noch bei der Arbeit zu finden und ihm eine flüchtige Weile zuzuschauen, ehe wir den verabredeten Gang ins Freie unternahmen. Ohne alle Empfehlungen angekommen und auch ohne Mittel, mich in die Werkstatt eines in der Wolle des Gelingens sitzenden Meisters einzudingen, war ich darauf angewiesen, in den Vorhöfen des Tempels zu stehen und da oder dort durch die Vorhänge zu gucken, was immer seine Schwierigkeit hatte. Denn von den Scholaren, wie sie im Durchschnitte sind, war nichts zu lernen, und sobald die jungen Leute durch den Verkauf eines Werkleins sich als angehende Meister betrachten lernten, wurden sie in der Mitteilung ihrer Kunstgeheimnisse zugeknöpft und einsilbig. Schon war ich einmal zurückgeschreckt worden, als ich mich auf ausdrückliche Einladung hin bei einem Derartigen schüchtern zum Besuche meldete und er mich an der Türe mit der hochmütigen Entschuldigung abwies, er halte soeben Konferenz mit seinem Literaten, um »den Mann« für die Besprechung eines neuen Bildes zu instruieren. Auch in der Idealwelt der Kunst sind Kümmel und Salz reichlicher als Ambrosia, und wenn die Leute wüßten, wie klein und ordinär es in den Köpfen mancher Maler, Dichter und Musikanten aussieht, so würden sie einige dem Völklein nur schädliche Vorurteile aufgeben.

Mein neuer Freund, Oskar Erikson, war jedoch eine gerade und einfache Natur. Mit seiner ganzen langen und breitschultrigen Gestalt und in seinem dichten Goldhaar, welches vom hoch einfallenden Lichte gestreift wurde, saß er vor einem winzigen Bildchen, an dem er malte. Sonst war, außer einigen Skizzenbüchlein, in dem geräumigen Zimmer nichts zu erblicken als ein paar Jagdflinten an der Wand, auf dem Boden ausgestreckte Wasserstiefel und auf dem Tische liegende Pulverhörner und Schrotbeutel neben einigen Büchern. Eine kurze Jägerpfeife im Munde, rückte die Hünengestalt eben, als ich eintrat, mächtige Rauchwolken ausstoßend, auf dem Stuhle stöhnend und brummend[483] hin und her, stand auf, setzte sich wieder, warf die Pfeife weg, daß das glimmende Kraut umherfuhr, zielte mit dem Pinsel und rief in abgebrochener Weise: »O heiliges Donnerwetter! Welcher Teufel mußte mir einblasen, ein Maler zu werden! Dieser verfluchte Ast! Da hab ich zuviel Laub angebracht, ich kann in meinem Leben nicht eine so ansehnliche Masse Baumschlag zusammenbringen! Welcher Hafer hat mich gestochen, daß ich ein so kompliziertes Gesträuch wagte? O Gott, o Gott! wär ich, wo der Pfeffer wächst! ei, ei, ei, ei! Das ist eine saubere Geschichte – wenn ich nur diesmal noch aus der Tinte komme!«

Plötzlich fing er ans Verzweiflung machtvoll an zu singen:


»O wär ich auf der hohen See

Und säße fest am Steuer!«


was ihm zum Durchbruch zu verhelfen schien; denn der Pinsel saß jetzt an der rechten Stelle und arbeitete mehrere Minuten gemächlich fort, indessen Erikson die angefangene Melodie immer ruhiger und gedämpfter wiederholte und endlich verstummte und still weitermalte. Aber offenbar um Gott nicht allzulange zu versuchen, sprang er unversehens auf und betrachtete, einen Schritt zurücktretend, mit höchster Zufriedenheit den alten Dessauermarsch pfeifend, sein Werk. Dann setzte er das Gepfiffene in Worte um und sang, indem er das Rauchzeug wieder zusammensuchte: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage« usf., wobei er endlich meine Anwesenheit entdeckte.

»Sehen Sie, wie ich mich plagen muß!« rief er, mir unbefangen die Hand schüttelnd; »seien Sie froh, daß Sie ein gelehrter Komponist und Kopfmaler sind, der nichts zu können braucht, während so ein armer Teufel von Handelsmaler nicht weiß, wo er die Tausende von bargültigen Halbtönchen, Druckerchen und Lichtchen auftreiben soll, um seine kabinettsfähigen vierzig Quadratzoll nicht allzu schwindelhaft zu überstreichen!«[484]

Das war durchaus nicht ironisch gemeint; vielmehr betrachtete er seine Arbeit von neuem mit mißtrauischen Augen und setzte sich wieder hin, um noch ein bißchen sein Heil zu versuchen, indessen ich ihm gespannt zuschaute, wie er auf der großen Palette mit ängstlicher Vorsicht reine und sichere Tinten aussonderte, mischte und in der beschriebenen Weise auf trug. Wie er später, bei entwickelter Vertraulichkeit, von sich selbst behauptete, war er nicht etwa ein schlechter Maler (dazu war er allerdings zu geistreich), sondern im wesentlichen Sinne der Frage gar keiner. Ein Kind der nördlichen Gewässer, von der Grenzmark zwischen den Deutschen und Skandinaviern herstammend, Sohn eines in guten Umständen lebenden Seefahrtsmannes, hatte er in den ersten Jugendjahren ein anmutiges Geschick bekundet, mit gewandtem Stifte zu skizzieren, was ihm vor die Augen kam, und hauptsächlich für das jährliche Schulexamen prunkende Schaustücke in schwarzer Kreide angefertigt. Durch den Einfluß eines jener verkümmerten Zeichenlehrer, welche die Dürftigkeit ihrer Existenz mit unversieglicher Begeisterung zu verhüllen oder zu verbessern trachten und überall mit unseligem Aufstacheln zur Hand sind, war er vom freisinnigen Mut einer glücklichen Familie, sich selbst nur halb bewußt, der Kunst zugewendet worden, nicht ohne daß jener Lehrer hiebei manches kräftige Liebesmahl und auch klingenden Lohn für allerlei Rat und Tat zu genießen wußte. Die ungewöhnliche Laufbahn schien auch dem hellen und fröhlichen Sinn des Jünglings, seiner unbändig emporwachsenden Kraft eher zu entsprechen als der Aufenthalt in der väterlichen Schreibstube. So wurde er denn, im Widerspiel mit so vielen andern Jünglingen in ähnlicher Lage, unter bester Zustimmung und Hoffnung, wohlausgestattet und empfohlen, zur Reise nach den berühmtesten Kunstschulen entlassen und fand bei den namhaftesten Meistern, welche ihre Werkstätten zu öffnen pflegten, willige Aufnahme. Im Anfange ging die Entwicklung ganz frisch und ohne Unterbruch vonstatten, besonders da der[485] junge Mann, zwar nicht übereifrig und mehr lebenslustig, doch keine wirklichen Pausen in seinem Fleiße eintreten ließ und sowohl mit seiner prächtigen Gestalt als seinem heiter frohen Ernste eine Zierde der Ateliers bildete. Aber die Fortschritte gingen nur bis zu einer gewissen Grenze und standen dann unerbittlich still, auf geheimnisvolle Weise, da jedermann die schönsten Hoffnungen hegte und in der Führung des männlich ruhigen Scholaren keine Änderung eingetreten war. Erikson ward des Phänomens zuerst inne, glaubte aber dagegen ankämpfen, dasselbe überwinden und beseitigen zu sollen. Er veränderte den Ort, versuchte sich auf allen Gebieten, wechselte Meister um Meister – umsonst, er fühlte, daß ihm die Gewalt zur Erfindung sowohl wie zur Fülle der Ausführung abging, daß ihn das innere Sehen auf einem deutlich erkennbaren Punkte verließ oder höchstens sich vereinzelt gleich einem glücklichen Würfelspiel einstellte, welches sich nicht wiederholte, und schon hatte er sich entschlossen, den beschämenden Kampf aufzugeben und heimzukehren, als ihn die Nachricht von dem Ruin des väterlichen Hauses ereilte. Derselbe war so vollständig und hoffnungslos, wenigstens auf Jahre hinaus, daß die Heimkehr des Sohnes als eine Vermehrung des Übels betrachtet und bestimmt gewünscht wurde, er möge zusehen, wie er sich mit den Früchten seines bisher so löblichen Fleißes nun weiterhelfe.

So war denn sein Entschluß bald verändert. Mit unbestechlich bedächtiger Selbstkritik durchsuchte und verglich er das ganze Gebiet dessen, was in seinem Vermögen stand, und gelangte nach reiflichem Nachdenken zu dem Ergebnisse, daß er mit Sicherheit und Verständnis allereinfachste Landschaftsbilder im kleinsten Maßstabe, belebt mit vorsichtig hingesetzten Figürchen, alles dies mit einem gewissen Reiz ausgeführt, hervorbringen könne. Ohne Zaudern machte er sich daran, und zwar mit redlichem und anständigem Sinne. Denn anstatt mit leichter Arbeit auf falsche Effekte und irgendein manieriert modisches Gepinsel loszugehen, das sich sozusagen von selbst[486] hinschmiert (gerade das wäre für manchen andern so recht angezeigt gewesen), blieb er wie ein wahrer Gentleman den Grundsätzen einer ehrlichen Vorbereitung und Vollendung getreu, und hiemit erneuerte sich bei jedem neuen Bildchen für ihn Arbeit und Mühe. Glücklicherweise gelang die Sache. Gleich das erste Produkt, das er ausstellte, wurde rasch verkauft, und es dauerte nicht lange, so suchten die für feinere Kenner geltenden Sammler die sogenannten Eriksons zu guten Preisen zu erwerben.

Ein solcher Erikson enthielt etwa im Vordergrunde ein helles Sandbord, einige Zaunpfähle mit Kürbisranken, im Mittelgrunde eine magere Birke, dann aber einen weiten flachen Horizont, dessen wenige Linien, mit weiser Berechnung angelegt und in Verbindung mit der einfach gehaltenen Luft, die Hauptwirkung des Werkleins hervorbrachten.

Obgleich dergestalt Erikson als echter Künstler angesehen wurde, verleitete ihn das weder zur Selbstüberschätzung noch zum Geiz; sobald seinem Ausgabenbedürfnisse genügt war, warf er Pinsel und Palette hin und ging ins Gebirge, wo er sich als Jagdgenosse so einheimisch gemacht, daß er sogar zur Bärenjagd, wenn sich eine solche auftat, zugelassen wurde. Den größern Teil des Jahres brachte er, fern von der Stadt, auf diese Weise zu.

Es gehörte nur zum Bilde des allgemeinen Lebens und seines Haushaltes, wenn ich jetzt genötigt war, dem wackern Gesellen, der sich selbst nicht für einen Meister hielt, die Geheimnisse des Handwerks abzulauschen.

»Nun ist's aber genug!« rief Erikson plötzlich, »auf die Art kommen wir nicht fort. Überdies wollen wir im Vorbeigehen einen Kameraden abholen, bei dem Sie Besseres sehen können, heißt das, wenn wir Glück haben! Kennen Sie Lys, den Niederländer?«

»Nur vom Hörensagen«, versetzte ich; »ist es der Sonderling, von dem niemand weiß, was er malt? der niemanden in seine Werkstatt läßt?«[487]

»Mich läßt er schon hinein, weil ich kein Maler bin! Sie vielleicht auch, weil Sie noch nichts können und es noch unentschieden ist, ob Sie überhaupt je ein Maler sein werden! Na, werden Sie nur nicht mauserig, etwas werden Sie schon werden und sind es ja bereits. Lys hat's Gott sei Dank nicht nötig, er ist reich und kann schon alles, was er will, nur ist es nicht viel; denn er tut fast nichts. Am Ende ist er auch kein Maler, wenigstens sollte man keinen so heißen, der nicht wirklich malt, er müßte denn Abhaltungen haben wie jener Leonardo, der Talerstücke an die Domkuppel warf!«

Ich half ihm rasch sein Zeug reinigen, das er stets in so guter Ordnung hielt, daß er auch jetzt nachsah, wie ich es gemacht. »Denn es ist nicht gleichgültig«, sagte er, »ob man mit Mist malt, wenn man doch die Absicht hat, einen lautern Ton zu treffen. Wer immer Dreck in seinem Zeug hat oder das Unverträgliche mischt, ist wie ein Koch, der das Rattengift zwischen die Gewürze stellt. Aber die Pinsel sind rein, Gott segne Sie! von diesem Punkte aus kann man Sie unbescholten nennen! Sie haben eine ordentliche Mutter, oder ist sie tot?«

Nachdem wir einige Straßen zurückgelegt, betraten wir die Niederlassung des mysteriösen Niederländers, welche so gewählt war, daß die Fenster des geräumigen, von ihm allein bewohnten Stockwerkes auf den freien Horizont und offenen Himmel hinausgingen und von der Stadt selbst nichts zu sehen war als ein paar edle Architekturen und massige Baumgruppen. Befand man sich in dieser Gegend auf freier Erde, so sah man nur den unfertigen Rand einer Stadt, mit Bretterwänden, alten Baracken und Wirtschaftlichkeiten versetzt; die Fenster des Herrn Lys, welche nichts als jene in einer Flut goldenen Lichtes ruhenden idealen Gegenstände zeigten, schienen daher mit sorgfältigem Geschmacke herausgefunden zu sein. Wenigstens wirkte die glänzende Durchsicht der großen Fenster durch eine offenbar bewußte Einfachheit und Ruhe in der Ausstattung der Zimmer in doppeltem Maße.[488]

Zu meiner Verwunderung hatte Lys, der uns freundlich empfing, nichts Holländisches an sich, wie man sich dieses vorzustellen pflegt. Ein mittelgroßer schlanker Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren, war er dunkel an Haar und Augen, letztere von einem fast melancholischen Ausdruck gleich dem hübsch lächelnden Munde. Noch mehr wunderte ich mich, daß das Zimmer, in welchem wir uns befanden, keine Spur von Kunsttätigkeit verriet, vielmehr dem Aufenthalt eines Gelehrten oder Politikers glich. Große, mit Gardinen verhangene Regale bargen eine Menge Bücher, worunter, wie ich später erfuhr, manche Raritäten und erste Ausgaben. An den Wänden hingen nicht etwa Bilder oder Studien, sondern Landkarten, auf einem Tische lag ein Haufen Journale verschiedener Sprachen, und an einem breiten Schreibtische schien Lys soeben gearbeitet zu haben.

»Ich bin mir noch den Nachmittagskaffee schuldig«, sagte er, als wir uns setzten, »halten die Herren mit?«

»Da wir vermuten, er werde nicht schlecht sein, gewiß!« antwortete Erikson für uns beide, und Lys klingelte einem jungen Menschen, der ihn bediente. Inzwischen sah ich mich immer noch im Raume um, nicht eben im Besitze des guten Tones.

»Der wundert sich auch«, rief Erikson, »wo die Staffeleien und Bilder dieses Kunsttempels seien! Nur Geduld, junger Herr von Strebsam, der Mann zeigt sie uns noch, wenn wir schön bitten! Aber wahr ist es, lieber Lys, bei Ihnen sieht's aus wie im Arbeitszimmer eines großen Publizisten oder eines Ministers!«

Etwas düster lächelnd versetzte der andere, er sei nicht aufgelegt, seine Arbeiten heute noch zu sehen; schon zum dritten Male müsse der Bursche die Paletten unverrichteterdinge abends wieder absetzen, und unter solchen Umständen sei es wohl verzeihlich, daß er nicht gern ins Atelier hinübergehe, sei es allein oder mit Fremden. Wirklich erteilte er dem Diener, als der mit[489] dem Kaffeebrett erschien, den Auftrag. Brett und Geschirr aber glänzten, mit Ausnahme der chinesischen Tassen, in schwerem Silber und waren in dem nüchternen neugriechischen Stile früherer Jahrzehnte gearbeitet, ein Zeugnis, daß Eltern und Familie des Niederländers von der Erde verschwunden waren und er als allein Übriggebliebener das Erbstück mit sich führte, um einen letzten Schimmer des verlorenen Vaterhauses um sich zu haben. Bei einer späteren Gelegenheit behauptete Erikson vertraulich, Lys bewahre in seinem Schreibtische auch das goldbeschlagene Kirchenbuch seiner Mutter auf.

Das braune Getränke war das feinste, was ich in meinen einfachen Verhältnissen bis anhin genossen; allein das Ungewohnte, ein so kostbares Familiengeräte bei einem fahrenden Künstler in täglichem Gebrauche zu finden, schüchterte mich etwas ein, und als Lys, meine abermals herumschweifenden Blicke bemerkend, mich anredete: »Nun, Herr Lehmann, können Sie sich noch nicht mit dem unmalerischen Anblick meiner Wohnung befreunden?« reizte mich das Vergessen oder Nichtbeachten meines Namens sowie die Weigerung, seine Arbeiten zu zeigen, zu einem kleinen Ausfalle. Die Art seiner Einrichtung, versetzte ich, werde vielleicht mit einem andern Wesen zusammenhängen, das ich seit einiger Zeit beobachtet habe, nämlich die wunderliche Manier, in welcher die verschiedenen Künste ihre technische Ausdrucksweise vertauschen. So hätte ich kürzlich die Kritik einer Symphonie gelesen, worin nur von der Wärme des Kolorites, Verteilung des Lichtes, von dem tiefen Schlagschatten der Bässe, vom verschwimmenden Horizonte der begleitenden Stimmen, vom durchsichtigen Helldunkel der Mittelpartien, von den gewagten Konturen des Schlußsatzes und dergleichen die Rede sei, so daß man durchaus die Rezension eines Bildes zu lesen glaube; gleich darauf hätte ich den rhetorischen Vortrag eines Naturforschers, der den tierischen Verdauungsprozeß beschrieb, mit einer gewaltigen Symphonie, ja mit einem Gesange der Göttlichen Komödie vergleichen hören,[490] während an einem andern Tische des öffentlichen Lokales einige Maler die neue historische Komposition des berühmten Akademiedirektors besprochen und von der logischen Anordnung, der schneidenden Sprache, der dialektischen Auseinanderhaltung der begrifflichen Gegensätze, der polemischen Technik bei einem dennoch harmonischen Ausklingen der Skepsis in der bejahenden Tendenz des Gesamttones zu reden gewußt hätten, kurz, es scheine keiner Zunft mehr wohl in ihrer Haut zu sein und jede im Habitus der andern einherziehen zu wollen. Wahrscheinlich handle es sich um das Ermitteln und Feststellen eines neuen Inhaltes für sämtliche Wissenschaften und Künste, wobei man sich beeilen müsse, nicht zu kurz zu kommen.

»Ich sehe schon«, rief Lys mit Lachen, »wir müssen doch noch hinübergehen, damit Sie sehen, daß wir wenigstens noch mit Farben malen!«

Er ging voran und öffnete die Türe zu einer Reihe von Räumen, in welchen je eines seiner Bilder, an denen er arbeitete, ganz allein und in der besten Beleuchtung aufgestellt war, so daß der Blick durch nichts anderes abgezogen und zerstreut wurde. Die spätere Nachmittagssonne, die auf den Wolken draußen, auf der weiten Landschaft und den tempelartigen Gebäuden lag, ließ die an sich schon leuchtenden Bilder durch ihren hereinfallenden Reflex noch verklärter erscheinen, so daß sie in der Stille des Raumes einen seltsam feierlichen Eindruck machten. Das erste war ein Salomo mit der Königin von Saba, ein Mann von eigentümlicher Schönheit, der sowohl das Hohelied gedichtet als geschrieben haben mußte Alles ist eitel unter der Sonne! Die Königin war als Weib, was er als Mann, und beide, in reiche Gewänder gehüllt, saßen allein und einsam sich gegenüber und schienen, die glühenden Augen eines auf das andere geheftet, in heißem, fast feindlichem Wortspiele sich das Rätsel ihres Wesens, der Weisheit und des Glückes herauslocken zu wollen. Das Merkwürdige dabei war, daß der schöne[491] König in seinen Gesichtszügen ein verschönter und idealisierter Lys zu sein schien. Im Zimmer war sonst nichts als eine flache blankgeputzte Messingschüssel von alter Arbeit mit einigen Orangen, die zufällig auf einem Ecktischchen stehen mochte. Die Figuren des Bildes waren von halber Lebensgröße.

Das Bild im nächsten Raume stellte Hamlet den Dänen dar, aber nicht nach einer Szene des Trauerspieles, sondern als das von einem guten Künstler gemalte Bildnis gedacht, als das Porträt des in seine Staatsgewänder gekleideten, noch ganz jungen und blühenden Prinzen, um dessen Stirn, Augen und Mund jedoch schon das verschleierte Schicksal der Zukunft schwebte. Dieser Hamlet erinnerte ebenfalls an den Maler selbst, aber mit so großer Kunst verhüllt, daß man nicht wußte, woran es lag. In einer Ecke des Zimmers lehnte ein Schwert mit reich in Stahl und Silber gearbeitetem Korbe, welches offenbar zum Modell gedient hatte oder noch diente. Dieser vereinzelte Gegenstand erhöhte noch den Eindruck der Einsamkeit und sanften Trauer, der von des Bildes stillem Leuchten ausströmte. Im übrigen hatte das Kniestück die volle Lebensgröße.

Von diesem Raume ging es endlich in den letzten hinüber, der schon ein Saal zu nennen war. Gleich den übrigen Bildern bereits mit dem schweren Schmuckrahmen versehen, stand hier die größte Komposition, deren Veranlassung die Bibelworte gegeben Wohl dem, der nicht sitzet auf der Bank der Spötter! Auf einer halbkreisförmigen Steinbank in einer römischen Villa, unter einem Rebendache, saßen vier bis fünf Männer in der Tracht des achtzehnten Jahrhunderts, einen Marmortisch vor sich, auf welchem Champagnerwein in hohen venezianischen Gläsern perlte. Vor dem Tische, mit dem Rücken gegen den Beschauer gewendet, saß einzeln ein üppig gewachsenes junges Mädchen, festlich geschmückt, welches eine Laute stimmt und, während sie mit beiden Händen damit beschäftigt ist, aus einem Glase trinkt, das ihr der nächste der Männer, ein kaum neunzehnjähriger Jüngling, an den Mund hält. Dieser sah beim[492] lässigen Hinhalten des Glases nicht auf das Mädchen, sondern fixierte den Beschauer, indessen er sich zu gleicher Zeit an einen silberhaarigen Greis mit rötlichem Gesicht lehnte. Der Greis sah ebenfalls auf den Beschauer und schlug dazu spöttisch mutwillig ein Schnippchen mit der einen Hand, während die andere sich gegen den Tisch stemmte. Er blinzelte ganz verzwickt freundlich mit den Augen und zeigte allen Mutwillen eines Neunzehnjährigen, indessen der Junge, Mit trotzig schönen Lippen, mattglühenden schwarzen Augen und unbändigen Haaren, deren Ebenholzschwärze durch den verwischten Puder glänzte, die Erfahrungen eines Greises in sich zu tragen schien. Auf der Mitte der Bank, deren hohe, zierlich gemeißelte Lehne man durch die Lücken bemerkte, saß ein ausgemachter Taugenichts und Hanswurst, welcher mit offenbarem Hohne, die Nase verziehend, aus dem Bilde sah und seinen Hohn dadurch noch beleidigender machte, daß er sich durch eine vor den Mund gehaltene Rose das Ansehen gab, als wolle er denselben gutmütig verhehlen. Auf diesen folgte ein stattlicher Mann in Uniform; dieser blickte ruhig, fast schwermütig, aber doch mit mitleidigem Spotte drein, und endlich schloß den Halbkreis, dem Jüngling gegenüber, ein Abbé in seidener Soutane, welcher, wie eben erst aufmerksam gemacht, einen forschenden stechenden Blick auf den Beschauer richtete, während er eine Prise zur Nase führte und in diesem Geschäft einen Augenblick anhielt, so sehr schien ihn die Lächerlichkeit, Hohlheit oder Unlauterkeit des Beschauers zu frappieren und zu bösen Witzen aufzufordern. So waren alle Blicke, mit Ausnahme derjenigen des Mädchens, auf den gerichtet, der vor das Bild trat, und sie schienen mit unabwehrbarem Durchdringen jede Selbsttäuschung, Halbheit, Schwärmerei, jede verborgene Schwäche, jede unbewußte oder bewußte Heuchelei aus ihm herauszufischen. Auf ihren eigenen Stirnen, um ihre Mundwinkel ruhte zwar unverkennbare Hoffnungslosigkeit; aber trotz der Blässe, die ohne den rötlichen Greis alle überzog, steckten sie in einer unverwüstlichen[493] Gesundheit, wie die Fische im Wasser, und der Betrachter, der seiner nicht ganz bewußt war, befand sich so übel unter diesen Blicken, daß man eher versucht war auszurufen Weh dem, der vor der Bank der Spötter steht!

Waren nun Absicht und Wirkung dieses Bildes verneinender Natur, so war dagegen die Ausführung mit dem wärmsten Leben getränkt. Jeder Kopf zeigte eine inhaltvolle wirkliche Persönlichkeit und war für sich eine ganze tragische Welt oder eine Komödie und nebst den feinen arbeitlosen Händen vortrefflich beleuchtet und gemalt. Die gestickten Kleider der wunderlichen Herren, die altrömische Tracht des Weibes, ihr blendender Nacken, die Korallenschnur darum, die schwarzen Zöpfe und Locken, die Bildhauerarbeit an dem alten Marmortische, selbst der glänzende Sand des Bodens, in welchen sich der Fuß des Mädchens drückte, diese Knöchel im blaßroten Seidenschuh alles dies war so breit und sicher und doch ohne Manier und Unbescheidenheit, sondern aus dem naivsten Wesen heraus gemalt, daß der Widerspruch zwischen dem freudigen Glanz und dem kritischen Gegenstand des Bildes die sonderbarste Wirkung hervorrief. Lys nannte dies Bild seine »hohe Kommission«, den Ausschuß der Sachverständigen, vor welchen er sich selbst zuweilen mit bangem Herzen stelle; auch führte er etwa einen armen Sünder, dessen Wohlweisheit und Salbung nicht aus dem lautersten Himmel zu stammen schien, vor die Leinwand und beobachtete die verlegenen Gesichter, die er schnitt.

Als wir wiederholt von einem Bilde zum andern gingen, ich dazwischen auch bei diesem oder jenem allein zurückblieb, wußte ich nicht ein Wort zu dem Gespräche beizutragen, sondern unterlag schweigend dem Eindrucke, den ein so entschiedenes Können auf den machte, der es nicht übersah. Erikson dagegen, welcher ein so beschränktes und bescheidenes Arbeitsfeld besorgte, hatte so vieles geübt und gesehen, daß er sich mit Leichtigkeit und Verständnis aussprechen konnte. Er pflegte auch zu sagen, er verstehe nun gerade genug von der Kunst,[494] um ein anständiger Liebhaber und Sammler zu sein, wenn das Glück ihn reich machen wollte, und um diesen Preis würde er sofort seine Palette an den Nagel hängen. In der Tat wußte er Altes und Neues wohl zu beurteilen und zu würdigen, ungleich so manchen Künstlern, die alles hassen oder geringschätzen oder einfach nicht verstehen, was nicht in ihrer Richtung liegt. Diese leidenschaftliche Beschränktheit ist freilich für manche notwendig, wenn sie auf dem Punkte beharren sollen, dem sie allein gewachsen sind, weil Anspruch und Bescheidung sich selten glücklich mischen. Auf jene Äußerung erwiderte dann Lys zuweilen, es sollte allerdings ab und zu einer von der Ausübung freiwillig zurücktreten, um der Kennerschaft frisches Blut zuzuführen; die Literaten seien wohl nützlich für das Logische und Chronologische, das Graphische und Biographische, für das Eintragen des Festgesetzten; vor dem Gegenwärtigen, sofern es als neu oder überraschend erscheine, ständen sie in der Regel unproduktiv und ratlos, und die ersten Stichworte müßten immer von den Künstlerkreisen ausgehen und seien daher meistens parteiisch, welche Parteilichkeit von den Literaten, nachdem die erste Kopflosigkeit überwunden, weiter ausgesponnen werde, bis der Gegenstand der Vergangenheit angehöre und einer verständigen Registrierung fähig geworden. Es sei das ein verdrießlicher Handel! Er habe Maler gekannt, die den verwichenen Raffael einen unangenehmen Kerl gescholten und dabei auf ihre grausam kritische Ader sich wunder was eingebildet haben; hinwieder seien ihm Kollegien lesende Professoren vorgekommen, welche an älteren Bildern eine wirkliche metallische Vergoldung nicht von gemaltem Golde zu unterscheiden wußten und in technischer Hinsicht überhaupt auf dem Standpunkte von Kindern und Wilden standen, die in einem gemalten Gesichte den Nasenschatten für einen schwarzen Fleck anzusehen pflegen.

Ich bemerkte wohl, daß Lys mit seinen Bildern in eigentümlicher Weise durch die Schule der großen Italiener hindurchgegangen[495] sei, ohne sie im Unmöglichen gerade nachmachen zu wollen, erfuhr nun aber, er habe früher sich zum strengen deutschen Zeichner ausgebildet, der es im sichern Führen von Stift und Kohle fast seinem berühmten Meister gleichgetan und die Farbe für ein mehr oder weniger notwendiges Übel gehalten habe. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Italien sei er gänzlich umgewandelt zurückgekommen, mit Geringschätzung auf die frühere Weise herabsehend. Als hievon die Rede war und Erikson bedauerte, daß Lys die edle Kunst der deutschen Zeichnung, die doch in ihrer Art ein unersetzliches Gut und Wahrzeichen der Nation sei, so ganz beiseite werfe, erwiderte dieser: »Ei was! Wer einmal recht zu malen versteht, kann erst recht zeichnen, und zwar alles, was er will! Übrigens übe ich das Ding manchmal noch, freilich nur zu meinem eigenen Spaß.«

Er holte ein ziemlich großes Album vom besten Papier herbei, das in Leder gebunden und mit einem stählernen Schlosse versehen war. Mit dem Schlüsselchen, das an seinem Uhrgehänge befestigt war, geöffnet, zeigte sich Blatt um Blatt eine Welt von Schönheit und zugleich der Verspottung derselben, wie sie nicht leicht wieder in solcher Weise sich zusammenfinden mag. Es war die Geschichte einer Reihe von Liebschaften, welche er erlebt und in das Buch gezeichnet hatte mit feinstem Stifte und im solidesten deutschen Stil, als ob Dürer und Holbein, Overbeck oder Cornelius den Dekameron illustriert und die Zeichnungen für den Grabstichel unmittelbar fertig gebracht hätten. Eine solche Geschichte bestand je nach ihrer Dauer aus mehr oder weniger zahlreichen Blättern; jede begann mit dem Bildniskopfe des betreffenden Frauenzimmers und einigen Variationen desselben in verschiedener Auffassung; dann folgte die ganze Figur, wie man wohl einer schönen Person zum ersten Mal auf dem Markte, in der Kirche oder im öffentlichen Garten ansichtig wird; dann entwickelte sich die Begegnung und das Verhältnis zum Helden, immer Lys selbst, bis zum Sieg und[496] Triumph der Liebe, worauf der Niedergang sich einleitete mit Gezänkszenen, Abenteuern der einseitigen oder gegenseitigen Untreue bis zur unvermeidlichen Trennung, die entweder mit einer jähen Verstoßung des scheinbar zerknirschten Helden oder mit einer komischen Gleichgültigkeit beider Teile vor sich ging. In diesem Verlaufe glänzte besonders eine Anzahl Einzelfiguren von schmollenden oder weinenden Schönen als wahre kleine Monumente des anmutig strengen Stiles. Eine entfesselte Haarflechte, eine Verschiebung der Gewänder an Schulter oder Fuß erhöhte stets den Eindruck der Bewegtheit, wie das zerrissen flatternde Segel eines Fahrzeuges von überstandenem Unwetter Kunde gibt. Es war nicht zu entscheiden, ob diese tragischen Situationen eine andächtig mitfühlende Hand geschildert oder ob eine leise Ironie ihren Teil daran hatte; unbestritten dagegen strahlten die weiblichen Ehren einiger Wesen, welche auf der Höhe ihres Triumphes in mythologischen Gestaltungen verklärt wurden.

Lys schlug so unbefangen ein Blatt nach dem andern um, als ob er ein Schmetterlingsbuch vorwiese, und nannte nur zuweilen den Namen einer der Schönen das ist die Teresa, das die Marietta, das war in Frascati, das in Florenz, das in Venedig!

Wir schauten ebenso erstaunt als sprachlos dem Umwenden der Blätter zu, auf welchen soviel Schönheit und Talent vorüberschwirrte, und nur Erikson legte zuweilen die Hand auf ein Blatt, um dasselbe einen Augenblick festzuhalten. »Ich muß gestehen«, sagte er endlich, »es ist mir nicht ganz begreiflich, wie man soviel Genie unterdrücken oder höchstens zu geheimen Allotria verwenden kann! Wieviel Vergnügen vermöchten Sie zu verbreiten, wenn Sie all dies Können einem ernsten Zwecke zu gut kommen ließen!«

Lys zuckte die Achseln: »Genie? Wo ist es? Das ist eben die Frage! Auch das wildeste Wesen dieses Geschlechtes muß fromm sein und einfältig wie ein Kind, wenn es allein ist und[497] arbeitet. Mir fehlt vielleicht die Frommheit oder Frommkeit; ich bin nie allein, sondern alle Hunde sind bei mir, mit denen ich gehetzt bin!«

Wir verstanden diese Worte, die zudem im Widerspruche mit der früheren Äußerung standen, daß man alles könne, nicht sonderlich wohl, und ich selber wußte vollends nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Ich fühlte mich zu dem hübschen, ruhigen, ja ernsten Manne hingezogen, während der Inhalt des Buches auf eine gewisse Art von Ruchlosigkeit deutete, die mancher wohl sich selber verzeihen mag, aber nicht an einem ernsthaften Freunde liebt. Es war etwas von jenem schrecklichen Prinzipe, das die beiden Geschlechter als zwei sich feindlich entgegenstehende Naturgewalten betrachtet, wo es heißt, Hammer oder Amboß sein, vernichten oder vernichtet werden, oder einfacher gesagt, wer sich nicht wehrt, den fressen die Wölfe.

Inzwischen waren wir beim letzten der gezeichneten Blätter angelangt, auf welches noch einige leere folgten, und Lys wollte das Album rasch zuschlagen. Erikson hielt ihn jedoch auf und verlangte das letzte Bild genauer zu sehen; denn alle bisher aufgetretenen Personen waren italienischen Ursprungs, jene aber offenbar von deutscher Art. Der Kopf war nicht, wie bei den andern, zuerst als Studie besonders gezeichnet, sondern es erschien gleich, als ob das Haupt nicht wohl abzusondern wäre, die ganze stehende Figur des schlanksten jungen Mädchens, dessen in großen Zöpfen aufgewundenes Haar so reich, daß das Haupt beinah zu schwanken schien, wie eine Nelke auf ihrem Stengel, obgleich der feingerundete Hals und Nacken nur aus natürlicher Anmut sich leise neigte. Außer zwei unschuldigen großen Sternenaugen war fast kein Inhalt in dem Gesicht, dessen zarte Züge kaum mit dem Silberstifte leicht genug anzudeuten waren, den der Zeichner dazu gewählt hatte. Desto sicherer und fester, immer zwar mit zarter Hand, wuchs die herb jungfräuliche Erscheinung durch die strengen Gewänderfalten[498] ins Licht, an denen kein Strich zuviel und keiner zuwenig war.

»Ei der Tausend!« rief Erikson, »wo steht diese Blume?«

»Die steht hier in der Stadt!« versetzte Lys, »ihr könnt sie gelegentlich sehen, wenn ihr brav seid!«

Ich jedoch, gerührt von der elementarischen Unschuld des Gebildes, rief unbedacht und flehentlich: »Der tun Sie aber kein Leid an, nicht wahr?«

»Oho«, sagte Lys lachend, indem er mir auf die Schulter klopfte, »was sollt ich ihr denn zuleid tun?«

Auch Erikson lachte, und somit brachen wir auf, unsern Abendgang in Begleitung des Niederländers anzutreten. Im Vorübergehen sahen wir die drei schönen Bilder wieder aufleuchten, ich für meine Person zum letzten Male; denn ich bekam sie später nur in einer grauen Morgendämmerung nochmals zu Gesicht, als ich kaum darauf achten konnte. Wo sie seither geblieben sind, weiß ich nicht; sie sind niemals an die Öffentlichkeit gelangt, und Lys selber hat sich in der Folge durch ein Schwanken seines Wesens von der Kunst abgewendet. Wenn es Sterne gibt, wie gesagt wird, welche man einen Augenblick lang deutlich hat schwanken sehen, warum sollte ein schwacher Mensch nicht von seiner Bahn abweichen?

Wir gingen nun zu dritt vom nördlichen Teile der Stadt an den Westrand hinüber, um da allmählich am Ufer des südwärts herkommenden Flusses eine behagliche Ruhstatt aufzusuchen. Unterwegs kamen wir an dem Hause vorbei, darin ich wohnte. »Halt!« sagte Erikson, als wir andere vorübergehen wollten, »wir wollen bei diesem auch noch schnell nachsehen, was er schafft! Die untergehende Sonne, die ihm grad in sein unpraktisches Fenster schaut, wird ihm zu Hilfe kommen, daß wir wenigstens etwas Farbe vor Augen haben!« Zögernd und doch nicht ungern ging ich voran, das Zimmer zu öffnen, und sah allerdings meine ungeheuerlichen Schildereien im Abendrote stehen gleich einer brennenden Stadt, so daß wir alle drei[499] hoch auflachten. Da waren zwei große Kartons, eine altdeutsche Auerochsenjagd in einem von Formen angefüllten gewaltigen Bergtale und ein germanischer Eichenwald mit Steinmälern, Heldengräbern und Opferaltären. Ich hatte die beiden Sachen mit großer Schilffeder auf die mächtigen Papierflächen gezeichnet und markig schraffiert, auch breite Schattenmassen mit grauer Wasserfarbe angelegt, darauf die Kartons mit Leimwasser überzogen und auf diesem Grund sodann mit Ölfarben lustig herumgewirtschaftet in der Weise, daß in den helldunklen durchsichtigen Teilen überall die Schilffederzeichnung durchblickte. Nicht eine einzige Naturstudie hatte ich dazu benutzt, sondern in meinem ungezügelten Schaffensdrang den ersten und letzten Strich frei erfunden, und da diese Art von Arbeit ebenso leicht als fröhlich vor sich ging, so sahen die zwei farbigen Kartons nach etwas aus, ohne daß viel davon zu sagen war. Denn ob ich auch imstande gewesen wäre, solche Bilder wirklich auszuführen, konnte man zunächst nicht wissen. Die acht Zoll großen Figuren hatte ich mir durch einen jungen Landsmann hineinzeichnen lassen, der als Schüler auf die Akademie ging und schon keck zu skizzieren verstand. Sie waren aber noch ungefärbt und trieben sich einstweilen als weiße Gespenster in den Wäldern herum. Hinter diesen Fahnen, von welchen die eine kulissenartig halb hinter der andern verborgen stand, ragte an der Wand eine dritte über sie hinaus, in gleicher Weise angelegt, aber noch ohne Farben. Eine von gewaltigen breiten Linden umgebene kleine Stadt baute sich zwischen den Stämmen und aus den Wipfeln heraus an einer Berglehne hinan, dicht gedrängt mit zahlreichen Türmen, Giebelhäusern, Wimpergen, Zinnen und Erkern. Man sah in die engen, krummen und mit Treppen verbundenen Gassen hinein, auf kleine Plätze, wo Brunnen standen, und durch die Glockenstuben des Münsters hindurch, hinter welchen die hellen Sommerwolken zogen, wie auch hinter den offenen Trinklauben, die sich in die Luft hinaus profilierten und Gesellschaften kleiner Männlein meiner[500] eigenen Arbeit beherbergten. Ich hatte die merkwürdige Stadt mit Hilfe eines architektonischen Sammelwerkes zusammengebaut und die Formen der romanischen und gotischen Baustile in bunter Gruppierung und Übertreibung so gehäuft, wie kaum jemals vorkam, und dabei die Entstehungsweise chronologisch angedeutet, indem die Burg und die untern Teile der Kirche das höchste Alter in der Bauart zeigten. Der hochgerückte Horizont zog sich noch über die Linden weg und schloß ein weites Gelände ab, das Meierhöfe, Mühlen, Gehölze und in einem düstern Schattenwinkel das Hochgericht umzirkte. Vorn sollte aus dem offenen Tore eine mittelalterliche Hochzeit über die Fallbrücke kommen und sich mit einem einziehenden Fähnlein bewaffneter Stadtknechte kreuzen. Dies Figurengewimmel fügte ich mit erklärenden Worten hinzu, da einstweilen bloß der Platz dazu offen war.

»Vortrefflich!« sagte Lys, »eine gedachte Staffage, das ist das Leichteste und Duftigste, was es gibt! Übrigens glüht Ihre Stadt in der verfluchten Himbeerbrühe dieses Abendrotes wie das brennende Troja! Doch fällt mir ein Sie müssen alles aufgetürmte Mauerwerk aus rotem Sandstein bestehen lassen, das wird den kolossalen Bäumen gegenüber und in Verbindung mit den weißglänzenden Wolken einen eigentümlichen Effekt machen! Doch was haben wir hier wieder?«

Er meinte einen gegen die Wand lehnenden kleinern Karton, der sich grau in grau als eine Darstellung meiner Heimatsgegend zur Zeit der Völkerwanderung auswies. Über die bekannten Landformen zogen sich Urwälder neben- und übereinander hin, zwischen deren Furchen ein ferner Heerbann sich bewegte; auf einer Berghöhe rauchte ein römischer Wachtturm. Doch schon hatte Lys einen zweiten Entwurf umgedreht, eine sozusagen geologische Landschaft. Durch neuere Gebirgsarten, die sich schulgerecht unterscheiden lassen, ist ein kronenartiges Urgebirge gebrochen, welches mit jenen zusammen doch eine malerische Linie zu bilden sucht. Kein Baum oder Strauch belebt[501] die harte öde Wildnis; nur das Tageslicht bringt einiges Leben, das mit dem dunklen Schatten einer über dem höchsten Gipfel ruhenden Wetternacht ringt. Im Gestein aber beschäftigt sich Moses auf den Befehl Gottes mit der Herrichtung der Tafeln für die zehn Gebote, die zum zweiten Male aufgeschrieben werden sollen, nachdem die ersten Tafeln zerbrochen worden. Hinter dem riesigen Manne, der in tiefem Ernste über den Tafeln kniet, steht auf einem Granitstück, ohne daß er es ahnt, das prästabilierte Jesuskind, unbekleidet, und schaut, die Händchen auf dem Rücken, dem gewaltigen Steinmetzen ebenso ernsthaft zu. Ich hatte, weil es sich nur um einen ersten Entwurf handelte, die Figuren selbst erschaffen, so gut ich es vermocht, was sie der Epoche der Erdrevolutionen noch näherrückte. Da der Moses mit den Strahlenhörnern und das Kind mit der Glorie versehen waren, so erkannte Lys zu meiner Genugtuung sofort den Gegenstand, rief aber gleich darauf: »Da ist der Schlüssel! Wir haben also einen Spiritualisten vor uns, einen, der die Welt aus dem Nichts hervorbringt! Sie glauben wahrscheinlich heftig an Gott?«

»Allerdings«, sagte ich, neugierig zu wissen, wo er hinauswolle; Erikson aber unterbrach uns, indem er zu Lys gewendet sagte: »Lieber Freund! Plagen Sie sich doch nicht immer mit der Ausreutung des lieben Gottes! Sie machen es sich wahrhaftig saurer als der ärgste Fanatiker mit der Einpflanzung desselben!«

»Ruhig, Indifferentist!« versetzte Lys und fuhr fort: »Da haben wir's also! Sie wollen sich nicht auf die Natur, sondern allein auf den Geist verlassen, weil der Geist Wunder tut und nicht arbeitet! Der Spiritualismus ist diejenige Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrung hervorgeht und den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen, aus Steinen Brot machen will, anstatt zu ackern, zu säen, das Wachstum der ihren abzuwarten, zu schneiden, zu dreschen, mahlen und backen. Das Herausspinnen einer fingierten, künstlichen, allegorischen Welt aus[502] der Erfindungskraft, mit Umgehung der guten Natur, ist eben nichts anderes als jene Arbeitsscheu; und wenn Romantiker und Allegoristen aller Art den ganzen Tag schreiben, dichten, malen und operieren, so ist dies alles nur Trägheit gegenüber derjenigen Tätigkeit, welche nichts anderes ist als das notwendige und gesetzliche Wachstum der Dinge. Alles Schaffen aus dem Notwendigen heraus ist Leben und Mühe, die sich selbst verzehren, wie im Blühen das Vergehen schon herannaht; dies Erblühen ist die wahre Arbeit und der wahre Fleiß; sogar eine simple Rose muß vom Morgen bis zum Abend tapfer dabeisein mit ihrem ganzen Korpus und hat zum Lohne das Welken. Dafür ist sie aber eine wahrhaftige Rose gewesen!«

Da ich ihn nur halb verstand, indem ich doch glaubte, gearbeitet zu haben, so sagte ich ihm dies.

»Das geht so zu«, antwortete er: »Die geognostische Landschaft, die Sie darstellen wollen, haben Sie nie gesehen und werden sie, ich will wetten, auch niemals sehen. Dahinein setzen Sie zwei Figuren, mit denen Sie teils die Schöpfungsgeschichte und den Schöpfer feiern, teils aber ironisieren; das ist ein gutes Epigramm, aber keine Malerei; und endlich könnten Sie, wie man wohl sieht, die Figuren, wenigstens jetzt, gar nicht selbst ausführen, ihnen folglich nicht diejenige Bedeutung geben, die Sie sich geistreich denken; folglich stehn Sie mit dem ganzen Handel in der Luft; es ist ein Spiel und keine Arbeit! Nun aber genug hievon, und lassen Sie sich sagen, daß ich meine Predigt nicht gegen Sie, sondern gegen die ganze Gattung richte; denn an sich betrachtet, machen mir Ihre Sachen schon deswegen Vergnügen, weil sie einen Kontrast zu den meinigen bilden. Wir sind allzumal dualistische Tröpfe, wir mögen es anfangen, wie wir wollen. Was haben Sie hier für einen Schädel? Der war nie präpariert, kommt also aus der Erde?«

Er deutete auf den Schädel des Albertus Zwiehan, der in einer Ecke am Boden lag.

»Der gehörte auch einem Dualisten an in gewissem Sinne«,[503] erwiderte ich und erzählte, indem wir fortgingen, mit einigen Worten die Geschichte von den zwei Weibern, zwischen denen jener hin- und hergezogen worden. »Ich sag es ja!« lachte Lys, »nehmen wir uns in acht, daß wir nicht zwischen zwei Stühle fallen!«

Wir blieben bis tief in die Nacht alle drei beieinander und verabredeten, uns öfter zu treffen, was dann auch geschah, so daß wir bald gute Freunde und überall zusammen gesehen wurden.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 482-504.
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