Achtes Kapitel

Der wandernde Schädel

[712] So ging es in den Nächten zu. Wie ich die Tage damals verbracht, weiß ich mir kaum mehr vorzustellen; es war die verwunderlichste Übung der Geduld mit dem Schicksal, das will sagen, mit sich selbst. Und wie ich vorahnend gedacht, löste sich der Ausgang auf diese Weise am leichtesten von den Dingen. Es dauerte nicht viele Tage, so zeigte es sich, daß mein verwitweter Hauswirt ohne seine Frau nicht bestehen konnte und sich genötigt sah, die Haushaltung aufzulösen, die Kinder einstweilen den Eltern der Verstorbenen zuzuschicken und die Wohnung zu räumen. Schon waren die Kleinen fort, als der Mann mir mürrisch und gleichgültig anzeigte, ich habe eine andere Unterkunft zu suchen, da er selbst am nächsten Tage ausziehe.

Ich hatte nun alle die Jahre her in dem Hause gewohnt, und da ein übles Geschick meine fahrende kleine Habe auseinandergeblasen, so beschloß ich auf der Stelle, nach der Heimat zu gehen, statt einen bettelhaften Einzug in eine neue Wohnung zu halten. Ich änderte auch den Entschluß nicht, als mir nach Abtrag dessen, was ich dem Manne und andern noch etwa schuldig war, von dem bei Herren Joseph Schmalhöfer erworbenen Reichtume nicht so viel übrigblieb, womit ich hätte fahren können. Es reichte vielmehr zur Not für eine Fußwanderung hin, wenn ich das Geld genau einteilte, Tag und Nacht im Freien blieb und nur wenig Nahrung genoß.

Um nun aber in den abgetragenen Kleidern nicht völlig einem Landfahrer ähnlich zu sehen, griff ich zum letzten Hilfsmittel, nämlich zu den Bildchen, die ich bei dem jüdischen Kunstschneider hängen hatte. Ohne Zeit zu verlieren, ging ich zu ihm, nahm auch jenes etwas größere, auf der Ausstellung verunglückte Stück mit und frug ihn, ob er mich für die drei[712] Malereien neu und gut kleiden und was er noch an barem Gelde herauszahlen wolle.

Zu letzterm war er natürlich nicht zu bewegen; dafür fiel der Anzug leidlich gut aus, den zu liefern er nach seiner Geschäftsmaxime gleich bereit war; er ließ sich sogar zur Leistung eines festen stattlichen Hutes herbei, dessen Rand den Hals gegen den Regen zu schützen versprach. Ich fand mich bei alledem wohl bedient und beraten und schied zufrieden von dem Nothelfer, nachdem ich in einer Hinterstube die Kleider gewechselt und ihm den abgelegten Habit als Zeichen meiner Erkenntlichkeit für menschenfreundliche Behandlung überlassen.

Auf dem Rückwege schwankte ich, ob ich nicht den alten Schmalhöfer noch aufsuchen und von ihm Abschied nehmen solle. Ich besorgte jedoch, er könnte mich von neuem zu einem nichts entscheidenden und geisttötenden Arbeitsgewinne verlocken; also vermied ich sein Haus, holte bei der Behörde noch meine Ausweispapiere und eilte, da der Abend nahte, nach Hause; denn ich wollte mit angebrochener Nacht unverweilt die Wanderschaft antreten.

Das war auch geraten, da der Wirt bereits den sämtlichen Hausrat fortgebracht und auch mein Bett weggeräumt hatte, unbekümmert, wo ich diese letzte Nacht noch schlafen möge. Ich fand ihn, wie er ganz allein in der stillen Wohnung stand, die von unsern Tritten und Worten einen ungewohnten Widerhall hören ließ, weil sie gänzlich leer war. Nur etwas Kleider und kleines Geräte lagen noch beieinander, was er nicht zusammenzupacken wußte, da es ihm an einer Kiste fehlte. Ich sagte ihm, er könne sich meines großen Koffers bedienen, den ich zunächst nicht brauche. Das nahm er ohne Dank an, wofür ich ihm auch einen Streich spielte. Denn als ich nun in meine zwei Zimmer ging, in eine Reisetasche ein Restchen Wäsche und meine schön gebundene Jugendgeschichte gesteckt hatte und mich umsah, was etwa noch zu tun wäre, entdeckte ich zu[713] meinem Schrecken noch den Schädel des Albertus Zwiehan, der allein unversorgt zurückblieb.

Erschüttert nahm ich das unselige Sphäroid, das nicht zur Ruhe kommen konnte, in die Hand und fühlte Gewissensbisse. Armer Zwiehan! dachte ich, du bist einst von Ostindien nach der Schweiz gereist, von da nach Grönland und wieder zurück, dann hierher, und nun mag Gott wissen, was aus dir wird, den ich so leichtfertig vom Friedhofe genommen habe!

Aber das half nun nichts; ich hob den Deckel meines leeren Koffers und legte den alten Schädel hinein, die weitere Fürsorge dem auf dem Sprunge stehenden Hauswirte überlassend, der sich in seinem Unstern so wenig liebenswürdig gegen mich benahm, obgleich ich seit länger als fünf Jahren an den Unterhalt seiner Familie so manchen guten Taler beigetragen.

Dann trat ich mit umgehängter Tasche aus meiner besonderen Trauerwohnung in die allgemeine hinaus, gab dem Manne rasch die Hand und stieg die Treppe hinunter. Kaum war ich aber auf dem Flur angelangt, so rief der Unhold von oben her meinen Namen und schrie: »Da, nehmen's den auch mit, der gehört Ihnen!« Gleichzeitig kollerte und polterte der Totenkopf die lange hölzerne Treppe herunter und schlug mir unsanft an die Fersen.

Ich hob ihn auf; in der vorgerückten Dämmerung ließ er erbärmlich den Unterkiefer fallen, der in Drähten hing, und schien so zu bitten, ihn nicht zurückzulassen.

»So komm mit«, sagte ich, »wir wollen wieder zusammen heimgehen! Es war eine merkwürdige Reise!«

Ich zwängte den Schädel mit Mühe in die Wandertasche, wodurch diese ein unförmliches Aussehen gewann, wie wenn ein Kommißbrot oder ein Kohlkopf darinsteckte.

Nun hatte ich noch ein einziges Geschäft zu verrichten, das mir nicht leichtfiel. Seit dem sonderbaren und unverhofften Liebesabenteuer mit Hulda war ein Sonnabend von mir unbenutzt verstrichen und jetzt eben der zweite da. Durch die[714] Nachrichten des hochzeitreisenden Landsmannes sowie durch die erfahrenen Traumgesichte waren mir Mut und Lust zur Verwirklichung der tannhäuserlichen Glückspläne vergangen; und doch drängte mich jetzt ein Gefühl von warmer Dankbarkeit, selbst von zärtlicher Zuneigung und Erinnerung, nicht ohne ein Wort des Abschiedes, der Verständigung davonzugehen. Ich hoffte, das süße und ehrenwerte Geschöpf mit dem Geständnisse, daß ich kein Handwerksgeselle, sondern ein verarmter Künstler sei, der nicht wisse, was noch aus ihm werden solle, und vorerst das Land verlassen müsse, unschwer von seinen Gedanken abzubringen, über den abermaligen Verlust eines Liebhabers zu trösten und so im Frieden zu scheiden. Mit Tasche und Stab schon auf der Wanderschaft, schlug ich die Richtung nach der Straße ein, wo sie wohnte. Da es noch etwas zu früh war, trat ich in ein Gastbaus, um ein letztes Abendbrot in dieser Stadt zu mir zu nehmen. Dann fand ich bald im Laternenlichte das Haus und setzte mich im Schatten einer gegenüberstehenden Brunnensäule auf ein kleines Bänklein. Nun kam die anmutige Gestalt geschritten, im Werkeltagsgewande, aber nicht allein; ein schlanker junger Mensch begleitete sie, dem Anscheine nach ein Studierender oder Künstler, der eindringlich zu ihr redete. In der Nähe der Haustüre ging sie etwas langsamer, und ich vernahm, da sie jetzt zu sprechen anfing, die mir bekannte liebliche und offenherzige Stimme, die nur etwas trauriger oder weicher klang als an jenem Abend.

»Die Lieb ist eine ernstliche Sache«, sagte sie, »selbst im Scherze! Aber es gibt wenig Treu und Ehrlichkeit in der Welt. Nun, wir wollen die Bekanntschaft probieren, wenn Sie mich morgen auf den Tanz führen mögen; es wundert mein Herz, wie es ist, wenn es mit einem Herrn geht!«

Der neue Sponsierer antwortete mit leiser Flüsterstimme etwas, was ich nicht verstand; ich hörte einen leisen Kuß, ein »Gute Nacht!« worauf das Mädchen hinter der Haustüre verschwand[715] und dieselbe zuschlug, der junge Mann aber raschen Schrittes seiner Wege ging.

Das ist auch eine Freisprechung! dachte ich und erhob mich mit erleichtertem Gewissen, jedoch mit einer sehr krausen Empfindung. Ohne mich indessen weiter umzusehen oder eine Minute länger in der Stadt aufzuhalten, eilte ich dem Tore zu und wanderte wenige Zeit später auf der nächtlichen Heerstraße in der Richtung meines Heimatlandes fort.

Zufrieden mit der klaren und fertigen Form, welche mein Geschick nun angenommen hatte, setzte ich ohne Hast und ohne Aufenthalt Fuß für Fuß, als einziges Ziel im Auge, unter das Dach der Mutter zu treten, gleichviel ob arm oder reich. Stundenlang ging es so weiter; ich beachtete nicht, daß ich auf einem Kreuzungspunkte war und von der Hauptstraße auf eine unmerklich schmälere Seitenstraße geriet, daß sich eine solche Abzweigung nochmals wiederholte, bis ich mich auf einem ländlichen Fahrwege befand. Da ich aber nach dem Stande der Gestirne ungefähr nach der richtigen Himmelsgegend zog, so kam es mir nicht so sehr darauf an, ich rechnete eine etwelche Abirrung zu den nötigen Erlebnissen eines Landfahrers. Ich ging durch Gehölze, über Feld- und Wiesenfluren, an Dörfern vorbei, deren schwache Umrisse oder verlorene Lichter weit vom Wege lagen. Die tiefste Einsamkeit waltete auf Erden, als es Mitternacht wurde und ich über weite Feldgemarkungen ging; um so belebter waren die mit den langsam rückenden Sternbildern durchwirkten Lüfte, denn die unsichtbaren Schwärme der Zugvögel rauschten und lärmten in der Höhe. Noch nie hatte ich diesen herbstlichen Nachtverkehr des Himmels so deutlich wahrgenommen.

Ich kam in einen großen Forst, und die Dunkelheit wurde vollkommen. Still huschte der Kauz an meinem Gesichte vorüber, und aus der Tiefe schrie der Uhu. Als ich aber durchfröstelt und ermüdet war, stieß ich in einer Waldlichtung auf einen rauchenden Kohlenmeiler, dessen Hüter in seiner Erdhütte[716] lag und schlief. Ich setzte mich still an den heißen Meiler, wärmte mich und schlief ein, bis ein Flug hellschreiender Wanderfalken, deren silberblaue Flügel und weiße Brüste im ersten Frührot blitzten, über den Wald flog und mich weckte. Wie ich mich ermunterte, begann der Köhler aus der Hütte zu kriechen, die Füße voran; vor ihm stehend wie ein eben angekommener Wandersmann, wünschte ich ihm einen guten Morgen und fragte nach der Gegend und der rechten Straße. Er wußte nicht viel zu sagen, als daß ich mehr westwärts zu gehen habe.

Der Wald nahm ein Ende, und ich trat in eine weite deutsche Herbstmorgenlandschaft hinaus. Waldige und dunkle Gebirgszüge streckten sich am Horizont; durch das Land wand sich ein rötlicher Fluß, weil der halbe Himmel im Morgenrot flammte und die purpurn angeglühten Wolkenschichten über Feldern, Höhen, Dörfern und einer betürmten Stadt hingen. Die Nebel rauchten an den Waldhängen und zu Füßen der schwarzblauen Berge. Schlösser, Stadttore und Kirchtürme glänzten rot; dazu entrollte sich ein hallender Jagdlärm in den Wäldern, Hörner tönten, Hunde musizierten fern und nah, und ein schöner Hirsch sprang an mir vorüber, als ich eben den Forst verließ.

Das Morgenrot verkündete freilich ein nasses Abendbrot und gab mir keine gute Aussicht. Wenn ich meinen Wanderplan innehalten wollte, so durfte ich nicht daran denken, ein Nachtlager zu suchen, weil das mich für einen Tag der Nahrung berauben konnte. Ich dachte daher mit einigem Schrecken an die kommenden Fluten und daß ich durchnäßt die zweite Nacht hindurch wandern müsse. Die Nässe und der Schmutz besiegeln jeglichen schlechten Humor des Schicksals und nehmen dem Verlassenen noch den letzten Trost, sich etwa auf die mütterliche Erde zu werfen, wo es niemand sieht. Überall kältet ihm die unerbittliche Feuchte entgegen, und er ist genötigt, aufrecht zu bleiben.

In wenigen Stunden verhüllte auch ein graues Nebeltuch alles Licht, und das Tuch begann sich langsam in nasse Fäden[717] zu entfasern, bis ein gleichmäßiger starker Regen weit und breit herniederfuhr, der den ganzen Tag anhielt. Nur manchmal wechselte das naßkalte Einerlei mit noch kräftigeren Regengüssen, die, vom Winde gepeitscht, einen bewegtern Rhythmus in das Wasserleben brachten; das Land und Wege überschwemmte. Ich schritt unverdrossen durch die Fluten, froh, daß ich meinen neuen Anzug von tüchtigem Stoffe gewählt, der etwas aushielt. Erst zur Mittagszeit, dann aber pünktlich, kehrte ich in einem Dorfe ein und aß eine warme Suppe mit etwas Fleisch und Gemüse nebst einem großen Stück Brot. Auch ruhte ich eine Stunde und ging darauf wieder in den Regen hinaus. Denn wenn ich in acht Tagen, welche ich mindestens brauchte, nach Hause gelangen wollte, so mußte ich mich genau in jeder Hinsicht an die vorgesteckte Ordnung halten und durfte dabei nicht einmal erschöpft oder gar krank werden. Nur so blieb ich bis zuletzt Meister meiner selbst und hatte niemanden zu fürchten.

Nach einigen Stunden ging ich abermals auf einem Waldwege, immer bestrebt, die große Hauptstraße zu erreichen, mit deren Längsachse meine Richtung allmählich wieder zusammenfallen mußte. Als ich abseits vom Wege eine große Buche sah, deren gelbes Laub noch genügend dicht saß, ging ich hin und fand auf einer ihrer aus dem Boden ragenden Wurzeln eine ziemlich geschützte Ruhestelle und ließ mich nieder. Da kam ein altes Mütterchen dahergetrippelt, welches mit der einen Hand ein elendes Bündelchen kurzen Reisigs auf dem grauen Kopfe trug, dessen Haare so rauh und zerzaust waren wie das Gestrüppe darauf; mit der anderen Hand schleppte sie mühselig ein abgebrochenes kleines Birkenbäumchen hinter sich her. Mit zitternden Schrittchen zerrte sie emsig und keuchend, viele ängstliche Seufzer ausstoßend, den widerspenstigen Busch über alle Hindernisse weg, gleich der Ameise, die einen zu schweren Halm nach dem Bau schafft. Ich sah dem armen Weibe voll Mitleid zu und mußte mir gestehen, daß es dieser Kreatur[718] wohl noch schlimmer ging als mir und sie doch nicht rastete, sich zu wehren. Und doch war ich wiederum elend genug daran, da ich ihr nicht einmal irgend etwas helfen oder geben konnte. Wie ich über diese Ohnmacht beschämt hinstarrte, kam soeben ein Waldhüter des Weges, wohl so alt wie das Weib, aber mit rotem Gesicht, großem Schnurrbart, kleinen Ringen in den Ohren und töricht rollenden Augen. Der machte sich sogleich über die Frau her, welche den Busch erschrocken fahrenließ, und schrie:

»Hast wieder Holz gestohlen, du Strolchin?«

Bei allen Heiligen beteuerte die Alte, daß sie das Birkenbäumchen also geknickt auf dem Wege gefunden habe. Er rief aber:

»Lügen tust du auch noch? Wart, ich will dir's austreiben!«

Und der alte Mann nahm die alte Graue beim vertrockneten Ohr, das unter einem verschobenen Kattunkäppchen hervorguckte, zerrte sie daran und wollte sie dergestalt mit sich fortschleppen, daß es unnatürlich anzusehen war. Durch einen plötzlichen Einfall erleuchtet, holte ich meinen Totenkopf aus der Reisetasche, stülpte ihn auf den Stock und streckte ihn durch das Laubwerk des Unterholzes, hinter welchem ich selbst verborgen war. Zugleich rief ich mit zorniger Stimme: »Laß das Weib gehen, du schlechter Kerl!« und schüttelte den Schädel ein wenig, daß die Zähne zusammenklappten und das Laub raschelte, aus welchem er hinausguckte. Es mußte für die Leutchen draußen aussehen, wie wenn der Tod in dem Busch wäre.

Der Waldhüter blickte nach dem Orte hin, woher die Stimme erscholl, erstarrte förmlich, wurde fahl wie schlecht gebackenes Brot und ließ das Ohr des Mütterchens fahren. Ich zog das Gespenst sachte zurück; der Waldhüter starrte bewegungslos her; als ich es aber weiter oben aus dem Gebüsche tauchen ließ, irrten seine rundlichen Augen ihm dorthin nach, worauf er, so schnell ihn die schlotternden Beine tragen wollten, sich davonmachte, ohne einen Laut von sich zu geben. Erst[719] in bedeutender Entfernung, wo der Weg sich abbog, blieb er einen Augenblick stehen und schaute behutsam zurück. Da ließ ich den Schädel etwas wackeln, und sogleich verschwand der Flüchtling um die Ecke und war nicht mehr zu sehen. Er hatte freilich durchaus keinen Grund anzunehmen, daß bei diesem Wetter und zugunsten des armen Weibchens ein bloßer Hokuspokus im tiefen Walde aufgeführt werde, und überdies zeigten die Ohrringe genugsam an, daß er ein abergläubischer Mensch war. Das alte Mütterchen, das in seinem Schrecken nichts als die Flucht des Peinigers gesehen, wußte nicht, wie ihm geschah, ließ alles liegen und machte sich ebenfalls aus dem Staube; mit den zitternden Händen ruderte sie eifrig in der Luft und redete vor sich hin.

Meinesteils packte ich das alte gelbliche Kopfgeräte wieder ein, das so gute Dienste geleistet. Ich war von dem Scherze ordentlich erwärmt worden und ruhte noch ein Weilchen aus, wie ein Sieger auf dem Kampfplatz, mit dem erquicklichen Gefühle, daß selten einer so übel daran sei, der nicht durch irgendeine kleine Wendung über die Dinge gestellt werden könne. Ich betrachtete in Gedanken den aus dem Felde geschlagenen Unhold und bemühte mich, die Grundlage seines bestialischen Wesens aufzufinden. Ich sah die rund glänzenden Augen, die hochroten Gesichtspolster, den grauen, trefflich gepflegten Schnurrbart, die blanken Knöpfe seines Dienstrockes und glaubte zu fühlen, daß das Fundament all des anmaßlich brutalen Gebausches eine grenzenlose Eitelkeit sei, die sich, als einem dumm rohen Menschen innewohnend, nicht anders als in solcher Weise zu äußern wußte.

Dieser Kerl, dachte ich, welcher vielleicht der sorglichste Vater und Gatte ist und ein guter Gesell unter seinesgleichen, insofern er nur nicht im Prahlen und Ausbreiten seiner Art behindert wird, dieser Kerl gefiel sich ausnehmend wohl und hielt sich nach Maßgabe seiner Dummheit für einen Helden, als er das schwache Weib am Ohr zerrte. Nicht daß er etwa in der[720] Kirche oder im Beichtstuhle nicht zuweilen einsähe, daß er fehlbar sei; der Rausch der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit ist es, der ihn alle Augenblicke fortreißt und seinem Götzen frönen läßt. Um so genauer sieht er das Laster an seinem Vorgesetzten, dieser an dem seinigen, und so stufenweise fort, indem einer es am andern gar wohl bemerkt, aber nie unterläßt, der eigenen Unart voll Wut den Zügel schießen zu lassen, um nicht zu kurz zu kommen und sich herrlich darzustellen. Alle die tausend voneinander Abhängigen, die sich gegenseitig so erziehen, streichen ihre grauen Schnurrbärte und lassen die Augen rollen, nicht aus Bosheit, sondern aus kindischer Eitelkeit. Sie sind eitel im Befehlen und im Gehorchen, eitel im Stolz und in der Demut; sie lügen aus Eitelkeit und sagen die Wahrheit nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie ihnen für diesmal gut ansteht. Neid, Habsucht, Hartherzigkeit, Verleumdungssucht, Trägheit, alle diese Laster lassen sich bändigen oder einschläfern; nur die Eitelkeit ist immer wach und verstrickt den Menschen unaufhörlich in tausend lügenhafte oder wenigstens unnötige Dinge, Brutalitäten und kleinere oder größere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm machen, als er eigentlich zu sein wünscht. Das ist dann die Folge, eine krankhafte Abirrung von seinem Selbst statt der angestrebten Befestigung desselben.

Das ist aber nur die gröbere Hälfte, die Schar der Armen im Geiste. Die feinere Hälfte, die Schar der Begabten und Gebildeten, irrt nicht von sich ab, die hat einen Zaubersegen, der heißt: Wir wissen es und wollen es sein, nämlich eitel! »Die unschuldige Eitelkeit, sie ist die gutartige Verzierung des Daseins! Das goldene Hausmittelchen der Menschlichkeit und das Gegengift für die grobe, bösartige Eitelkeit! Die schöne Eitelkeit, als die zierliche Vervollkommnung und Ausrundung des eigenen Wesens, bringt alle Keimlein zum Blühen, die uns brauchbar und annehmlich machen für die Welt; sie ist zugleich der feinste Richter und Regulator ihrer selbst und treibt uns[721] an, das Gute und Wahre, das sonst verborgen bliebe, in edler Gestalt an den Tag zu bringen. Selbst Christus war ein bißchen eitel, denn er hielt Haar und Bart gelockt und ließ sich die Füße salben!«

So klingt dieses schöne Lied, und diese Eitelkeit ist erst der wahre Moloch, dessen gelindes Feuer Menschen und Kieselsteine frißt. Er bleibt stets er selbst, der Moloch, und fürchtet sich nicht und lächelt sein ehernes Lächeln, während sein heißhungriger Bauch glüht. An ihm versengen sich Freundschaft, Liebe, Freiheit und Vaterland und alle guten Dinge, und wenn er nichts mehr zu fressen hat, wird er ein kalter Ofen voll Asche.

Während dieser eifrigen Predigt, die ich mir selber hielt, war ich weitergewandert, und da mir das Gedankenspinnen die kühle Zeit vertrieb, so setzte ich es fort. Ich prüfte nun mich selber und meine Manieren und untersuchte für den Fall, daß ich von dem Laster mäßig frei sein sollte oder je würde, die Stellung, in welcher man sich der eiteln Welt gegenüber befindet. Gewiß ist, dachte ich, daß die Eiteln die Sklaven der Freien sind, um deren Beifall sie buhlen; aber Sklaven empören sich und werden grausam wie die Neger von St. Domingo. In beiden Fällen gilt es, durch sie hindurchzugehen und mit ihnen auszukommen, ohne Schaden an der Seele oder am Leibe zu nehmen. Aber warum soll man sich denn von ihnen unterscheiden, sich über sie erheben? Um auf dieses Erhobensein selbst wieder eitel zu werden?

Hier befand ich mich in einer Sackgasse, und indem ich den Ausgang suchte, wurde die Grübelei von einem Windstoße unterbrochen, der einen Baum so gewaltig schüttelte, daß dieser seine aufgesammelten Wasser mir jählings auf Schultern und Rücken warf. Ich schüttelte mich ebenfalls und sah mich nach einer Zuflucht um, die aber nicht vorhanden und mir auch nicht gestattet war. Dennoch verlangte mich nach irgendeiner Erleichterung; zuletzt fand ich dieselbe in dem Zwiehansschädel, der mehr seiner unbequemlichen Form als seines Gewichtes[722] wegen mich zu drücken begann. Allein im Begriff, ihm seitwärts in einem Dickicht sachte niederzulegen, überkam mich plötzlich der Wunsch und das Bedürfnis, in meiner Zwangslage etwas Freiwilliges zu tun und mich dadurch, wenn auch nur eines Daumens hoch, über dieselbe emporzuheben. Also packte ich den asketischen Gegenstand wieder auf und setzte die mühselige Wanderschaft fort, die mich zum Überfluß noch auf allerlei verlorene und schwierige Pfade brachte.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 712-723.
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