Dreizehntes Kapitel

Das eiserne Bild

[787] Obgleich noch nicht Weihnacht da war, schien gegen die Ordnung der Natur in der Tat der Lenz kommen zu wollen. Während die Worte und die Melodie von Dorotheas Frühlingslied mir in den Ohren klangen, hörte ich die ganze Nacht den Südwind wehen, den schmelzenden dünnen Schnee von den Dächern tropfen, und am Morgen lag eine unnatürlich warme Sonne auf den getrockneten Gefilden, während die Bäche voller dahinrauschten und murmelten. Nur die Blumen, die Maßliebchen und die Schneeglöckchen, fehlten. Dennoch tönte es noch fortwährend in mir: »Der Mai ist vor der Tür, du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier

Noch gestern hatte ich geglaubt, mit meiner verschwiegenen Verliebtheit hoch über allem zu stehen, was ich je über Liebe gedacht und empfunden, und nun mußte ich erfahren, daß ich keine Ahnung gehabt von der Veränderung, die in dieser falschen Frühlingsnacht vorging.

Das Gattungsmäßige im Menschen erwachte mit aller Gewalt seines Wesens in mir; das Gefühl der Schönheit und Vergänglichkeit[787] des Lebens verdoppelte sich, und zugleich schien mir alles Heil der Welt nur auf diesen zwei schönen Augen zu stehen; während ich sie aber aus Dankbarkeit schon für ihr bloßes Dasein liebte und ehrte, verschmähte ich, sie auch nur in Gedanken mit meiner Person zu behelligen aus lauter Demut und Furcht, und doch war Demut wie Furcht wieder eine Lüge, wenn sie zwanzigmal mit unbestimmten Hoffnungen, mit Vorstellungen von Glück und Freude wechselten, statt zum Entschlusse weiser Flucht zu führen.

Mit Ruhe und Arbeit war es nun vorbei; denn so wie ich etwas in die Hand nehmen wollte, verirrten sich meine Augen in das Weite, und alle Gedanken flohen dem Bilde der Geliebten nach, welches, ohne einen einzigen Augenblick zu weichen, überall um mich her schwebte, während es zu derselben Zeit schwer wie aus Eisen gegossen in meinem Herzen lag, schön, aber unerbittlich hart und schwer. Von diesem eisernen Drucke, der mir sehr neu und grausam vorkam, war ich nur in Dortchens Gegenwart frei; kaum sah oder hörte ich sie nicht mehr, so stellte er sich wieder ein, und ich konnte ihn füglich ebensowohl als ein körperliches wie als ein moralisches Übel betrachten. Die Heftigkeit des Zustandes wurde keineswegs durch das beschämende Bewußtsein gemildert, daß ich an dem eben verbannten Peter Gilgus einen drolligen Genossen besaß; wie ich überhaupt nicht viel von der Meinung halte, physische oder geistige Leiden seien leichter zu tragen, wenn sie mit andern geteilt werden. War Gilgus auch in seiner Art von mir verschieden, so standen wir uns doch darin gleich, daß beide als arme Zuflüchtige in das Haus gekommen und mit dem Begehren nach der Tochter endeten.

Der unzeitige Frühling hielt wochenlang an; in den Gehölzen blühte schon der Zeidelbast, so daß ich am Weihnachtsabend, da ich nichts anderes hatte, eine Handvoll der roten duftenden Zweige auf den Bescherungstisch legen konnte. Es wurde übrigens nur den Angestellten und Dienstleuten beschert und ohne[788] weitere Festlichkeit; denn der Graf sagte, es zieme sich nicht, mit den Kirchlichen nur die Lustbarkeiten, nicht aber die Peinlichkeiten und die Andachten zu teilen. Als der Tisch geleert und das Volk abgezogen war, lag mein Strauß noch da. Dorothea ergriff ihn und sagte: »Wem gehört denn eigentlich die schöne Daphne? Gewiß mir, ich seh's ihr an!«

»Wenn Ihnen die Jahrszeit nicht allzu verdächtig ist«, sagte ich, »so erbarmen Sie sich dieser zu früh gekommenen Sendboten!«

»Ei was, man muß das Gute nehmen, wie's kommt. Haben Sie Dank; wir wollen die Zweige gleich ins Wasser stellen, sie sollen uns das ganze Haus durchduften!«

Dorothea war nicht nur an diesem Abend, sondern über die ganze Festzeit aufgeräumt und von lieblichster Laune, besonders am Neujahrstage, wo zum ersten Male, seit ich im Hause war, sich eine größere Gesellschaft zu einem Festmahle einfand. Nicht nur der Kaplan, sondern auch der Pfarrherr, der Arzt, ein Oberamtmann und einige Edelleute! Jugendgenossen des Grafen, welche trotz seiner verpönten Gesinnungen ihm zugetan blieben, waren da. Selbst ein paar aufgeweckte ältere Damen kamen angefahren und verbreiteten sogleich den guten freien oder den freien guten Ton, der in gewissen Zeiten oft nur noch in der Gewalt der alten Frauen steht, die andere Tage gesehen haben und für sich nichts mehr fürchten noch hoffen. Es wurde nichts gesagt, was der einzelne nicht hören durfte, und doch auch nichts verschwiegen, was irgend mit wohlwollender Heiterkeit anzubringen war. Jeder fand seine Gelegenheit, ein Wort mitzusprechen, und keiner mißbrauchte sie, weil das Treffendere und deshalb scheinbar Neuere schon gesagt war, sofern einer darauf ausging, dergleichen zu leisten. Selbst der Kaplan übte seine Künste mit höflicher Mäßigkeit, und der Pfarrherr, ein rechtgläubiger, aber nicht bösartiger Katholik, zog von vornherein eine so generose Linie des allenfalls zu Dulden den um seine behagliche Person, daß die Überschreitung[789] der Grenzwehr niemandem einfiel und sogar nicht einmal eine merkliche Annäherung versucht wurde.

Ungeachtet dieses heitern Daseins nahm ich meine Zeit wahr, um mich für einmal zurückzuziehen, da ich durch mein Dableiben weder aufzufallen noch zu stören wünschte. Für den Augenblick etwas ruhiger geworden, begab ich mich in die alte Hauskapelle und machte mir dort einiges mit meinen Bildern zu schaffen, die halb eingetrocknet dastanden.

Wie ich mich so in der Stille befand, kam mir plötzlich die Mutter in den Sinn, welche in der fernen Heimat saß und nicht wußte, wo ich war, indessen es mir hier wohlerging. Längst hätte ich ihr nun Nachricht geben können und sollen, da sich die Umstände ja für einmal tröstlich verändert hatten; daß ich es dennoch immer verschob, geschah aus unklar ineinanderfließenden Ursachen. Erstlich hielt ich allerdings meine Angelegenheiten nicht mehr für so sehr wichtig und besprechenswert, seit ich aus der Not erlöst war; dann dachte ich wieder, durch die Freude einer unvermuteten Ankunft alles gutzumachen, bis wohin die kurze Spanne Zeit, gegenüber den verflossenen Jahren, nicht mehr in Betracht käme; endlich aber scheute ich mich unbewußt, bei dem jetzigen innern Zustande irgendeinen Laut von mir zu geben, zumal die geheime Selbstliebe trotz aller gegenteiligen Gedankengänge und Vorsätze sich doch nicht eingestehen wollte, daß jede Entscheidung undenkbar sei. Als ich nun in einiger Ruhe dies Wirrsal beschaute, faßte ich doch den Entschluß, die stille Stunde zu benützen und der Mutter zu schreiben, wo ich sei, wie es mir gehe und daß ich bald heimkehren werde. Zu diesem Zwecke ging ich nach dem Gartenhause hinüber, wo ich etwas Bücher und Schreibzeug liegen hatte. Auf dem Wege dahin bemerkte ich, daß die Gesellschaft sich in dem wie im Frühlingslichte ruhenden Park erging; das konnte mir als merkwürdiges Bild eines Neujahrstages und meines Aufenthaltes gleich zum Eingange des Briefes dienen. Kaum war ich aber in meinem Zimmer oder Schlafsälchen angelangt,[790] so klopfte es, und Röschen die Gärtnerin erschien in der Sonntagstracht der Landesgegend vom zierlichsten Schnitte; die wollene pelzverbrämte Jacke trug sie der warmen Luft wegen nur am Arme, so daß die Brustbekleidung von grüner Seide mit ihren silbernen Häkchen und Knöpfchen den Wuchs des hübschen Mädchens um so feiner zeichnete. Ein kleines Gehäube, von schwarzem Samt und Spitzen zusammengesetzt, bekleidete den Ausgang der starken goldenen Zöpfe, von denen der eine wie aus Übermut über die Schulter nach vorn gezogen war und mit der Jacke auf dem Arme lag.

Sie war von Seite des Fräuleins an mich abgesandt mit der Aufforderung, sogleich nebst der Botin zu ihr zu kommen und den Frauenzimmern den Ort zu zeigen, wo ich den blühenden Zeidelbast gefunden habe. Das Mädchen lächelte artig und schalkhaft bei seiner Verrichtung, seines vorteilhaften Aussehens wohlbewußt; der schöne Anblick saß mir auch fest im Auge, doch nahm ich denselben lediglich zugunsten der Herrin, deren Schönheit ich ihn zurechnete. Ohne Zögern ließ ich liegen, was ich vorgehabt, und eilte mit dem Mädchen durch Bäume und Herrschaften nach dem Kirchhofe, wo Dorothea wartete.

»Wo stecken Sie denn?« rief sie mir entgegen; »wir wollen noch mehr von dem blühenden Zeiland suchen, das kann man nicht alle Neujahrstage. Überdies sind wir die einzigen jungen Leute hier und dürfen uns auf unsere Weise auch ein bißchen des Lebens freuen!«

Sie ergriff somit meinen Arm, und wir gingen, von Röschen begleitet, nach dem Buchenwald, den wir in acht oder zehn Minuten erreichten. Der Waldboden war trocken wie im Sommer, und sobald wir ihn betraten, fing Dortchen an zu singen, und zwar ein wirkliches Volkslied und im Tone, wie das Volk selber singt, treuherzig und selbst mit den kleinen Schnörkeln verziert, die jenes anzuhängen pflegt. Röschen fiel alsbald mit der zweiten Stimme ein, etwas tief und derb, so daß es klang, wie wenn zwei gesunde Landmädchen durch den sonntäglichen[791] Wald gingen. Natürlich waren es von den wehmütigen Liebesgeschichten, die sie eine nach der anderen anstimmten und andächtig zu Ende führten, ohne daß Dortchen meinen Arm fahrenließ, bis ein rötlicher Glanz uns anzeigte, daß einige Sträucher der gesuchten Pflanze in der Nähe waren; denn die sinkende Sonne streifte durch die Buchenstämme und traf die blühenden Zweige der Daphneen, wie Dortchen sie mit dem botanischen Titel nannte, der mir unbekannt gewesen. Sie jauchzte fröhlich auf, und beide Mädchen liefen sogleich hin, von den narkotisch duftenden Zweigen die schönsten zu brechen, während ich mich auf den Stamm eines gefällten Baumes setzte und ihnen zuschaute, mit Wohlgefallen jeder ihrer Bewegungen mit den Augen folgend.

Als sie ihre Ernte gehalten, ging Röschen weiter, noch mehr Sträucher aufsuchend, und das Mädchen verlor sich allmählich hinter den Bäumen. Dorothea hingegen kam und ließ sich bei mir nieder, indem sie mir ihren Blütenstrauß unter die Nase hielt.

»Ist es nun nicht hübsch hier«, sagte sie, »und sind Sie nicht froh, daß wir Sie aus Ihrem Schlupfwinkel geholt haben?«

»Ich wollte an meine Mutter schreiben«, antwortete ich.

»Haben Sie ihr denn nicht schon früher auf den heutigen Tag einen Neujahrsbrief geschickt?«

»Ich habe ihr noch nicht geschrieben, seit ich hier bin; sie weiß gar nicht, wo ich lebe!«

»Sie weiß es gar nicht? Wie können Sie so was tun?«

Ich blickte seitwärts und kratzte mit den Fingern ein kleines Moosgärtlein weg, das auf der silbergrauen Rinde des Stammes saß. Dann sagte ich, daß ich einen so langen Aufenthalt nicht vorhergesehen und endlich gedacht hätte, die Mutter um so froher zu überraschen, wenn ich schließlich selber käme.

»Das muß ich sagen«, rief sie, »morgen müssen Sie aber schreiben, ich leid es nicht länger! Wer ein solches Mütterchen hat, sollte seinem Schöpfer danken! Wissen Sie, daß Ihr Buch[792] aussieht wie ein Herbarium? Überall, wo mir etwas Freude machte oder wo ich Ihnen gern die Leviten gelesen hätte, legte ich ein grünes Blatt oder Gras hinein. Es liegt in meinem Sekretär eingeschlossen. Mehr als einmal, wenn ich von Ihrer Mutter las, dachte ich: Könntest du doch bei einem solchen Mütterchen mit unterkriechen, die du keines gekannt hast! Aber morgen wird geschrieben! Sie müssen auf meinem Zimmer schreiben, und ich geh Ihnen nicht von der Seite, bis der Brief fertig und zugemacht ist, und wenn Sie folgsam sind, so schreib ich selbst noch einen Gruß mit hinein!«

»Das wird doch nicht wohl angehen!« sagte ich.

»Warum denn nicht? O gefrorner Christ! Warum denn nicht? Darf ich Ihre Mutter nicht grüßen? Und wollen Sie nicht schreiben?«

Statt zu antworten, arbeitete ich fleißig weiter an der Ausreutung des Moosfleckes; denn das eiserne Abbild Dortchens drehte sich in meinem Herzen um, während ich neben dem Urbilde saß, was es sonst nie tat, und es war, als ob es mit furchtbarem Druck der schweren Eisenhände sich gegen die Wände seiner dunklen Behausung stemmte. Indessen ergriff sie meine Hand und wiederholte mit leiserer Stimme:

»Warum wollen Sie nicht? Oder soll ich für Sie schreiben, gleichsam in Ihrem Auftrage? Nein, das geht auch nicht! Aber diktieren will ich Ihnen, was ich denke, daß es der Mutter Vergnügen macht, und Sie brauchen bloß nachzuschreiben! Nun?«

Eh ich aber antworten konnte, war Röschen mit einer ganzen Schürze voll Märzglöckchen herbeigesprungen, die sie gefunden, und es war Zeit, zum Schlosse zurückzugehen. Dortchen ließ das Gespräch fallen. Sie nahm auf dem Rückwege meinen Arm nicht wieder, ging aber dicht neben mir her. Plötzlich sagte sie:

»Röschen, leih mir deine Jacke, wenn du sie nicht brauchst!

Es fängt doch an, mich zu frösteln!«

Röschen reichte ihr das Kleidungsstück; es fand sich aber,[793] daß es für den höhern Wuchs der Dorothea zu klein und eng war, so daß sie es nicht anziehen konnte.

»Wollen Sie sich nicht meines Rockes bedienen?« sagte ich mit unbeholfenem Scherze, und sie antwortete: »Nein, in Ihrer Haut mag ich nicht stecken, Sie kalter Fisch!«

Ins Schloß zurückgekehrt, hatte sie dem Tee vorzustehen, der noch eingenommen wurde, und nachher der Verabschiedung der einzelnen Gäste beizuwohnen. Als ich mit dem Grafen und dem Kaplane noch bei einem Glase Punsch zusammensitzen mußte, kam sie, gute Nacht zu wünschen. Sie legte dem erstern den Arm um die Schultern und sagte scherzhaft weinerlich:

»So eine Adoptivtochter fahrt doch ein elendes Leben! Nicht einmal ihrem Vater darf sie einen Kuß geben, wenn sie zu Bett geht!«

»Was fällt dir ein, du Närrchen?« sagte der Graf lachend; »das geht allerdings nicht und würde sich nicht schicken!«

Hier wendete sich das Eisen wieder in meinem Herzen und drückte mich jämmerlich die ganze Nacht. Dazu fing es an, mir den Hals zuzuschnüren, und ich konnte nicht anders Luft bekommen als durch den Ausbruch einer Tränenflut und erbärmlichen Schluchzens, zum ersten Mal in meinem Leben wegen Liebessachen. Der Unwillen über diese Schwachheit vermehrte das Übel, so wie auch die unliebsame Entdeckung, daß durch die wahre Leidenschaft, als welche ich die Geschichte ansah, die Freiheit der Person und jede vernünftige Selbstbestimmung verlorengehe, mich elend machte.

Als es endlich Tag wurde, war der falsche Lenz vorüber, und es fiel ein mit Schnee vermischter Regen. Dortchen sagte, als ich im Schlosse erschien, nichts mehr vom Schreiben, und ich selbst vermochte erst recht nicht, mich daranzumachen. Eine abermalige neue Erfahrung war der Widerwillen gegen das Essen, welchen aus solchen Ursachen zu empfinden ich nie für möglich gehalten hätte. Denselben zu verbergen, damit er nicht auffiel und weil er ein trübseliges Aussehen mit sich brachte,[794] kostete die größte Mühe, und alles das in einem Alter, wo ich doch auch kein Konfirmand mehr war. Auch bedauerte ich, diese schöne brotsparende Leidenschaft nicht zur Zeit meiner Hungersnot besessen zu haben, wo sie mir die besten Dienste geleistet hätte. Diese realökonomische Observation hinwieder nicht der Dorothea zu ihrer Belustigung mitteilen zu dürfen, drückte mir fast das Herz ab.

Dortchen dagegen schien nicht übel aufgelegt und sogar mit jedem Tage besser, ohne sich stark um mich zu kümmern. Sie machte Geldstücke wie Kreisel über den Tisch tanzen, brachte Kinder herbei und setzte ihnen Papiermützen auf die Köpfe, ließ auf dem Hofe Hunde apportieren, und was dergleichen unschuldige Schwänke mehr waren, und alles dünkte mich unergründlich merkwürdig, reizvoll und bestrickte mich. Alle die kleinen Teufeleien verrieten täglich heller eine ursprüngliche Anmut und Beweglichkeit des Gemütes und zeigten mit federleichten Wendungen, daß sie tausend Nücken unter den Locken sitzen hatte. Wenn nun erst die offene, klare Herzensgüte, was man so die Holdseligkeit am Weibe nennt, uns gewinnt, so bringt uns nachher, wenn wir in unserer Einfalt entdecken, daß die Geliebte nicht nur schön und gut, sondern auch gescheit und beweglich ist, die fröhliche Kinderbosheit des Herzens vollends um Ruhe und Verstand; und so ging auch mir ein neues Licht auf, und es befiel mich ein heftiger Schreck, nun gewiß nie wieder ruhig zu werden, da ich gerade dies kurzweilige Frauenleben niemals mein nennen könne. Denn wenn die Liebe nicht nur schön und tief, sondern auch recht eigentlich kurzweilig ist, so erneut sie sich selbst in jedem Augenblick das bißchen Leben hindurch und verdoppelt den Wert desselben, und nichts macht trauriger, als ein solches Leben möglich zu sehen, ohne es zu gewinnen; ja die allertraurigsten Leute sind die, welche glauben, das Zeug dazu zu haben, recht lustig zu sein, und dennoch traurig sein müssen aus Mangel an guter Gesellschaft. So dachte und fühlte ich damals, weil ich nicht wußte, daß es[795] wichtigere und dauerhaftere Dinge in der Welt gibt als jene jugendliche Kurzweil.

Da das schöne Wesen mir mit jedem Tage anders und unbegreiflicher erschien, obgleich sie immer dieselbe war, so verlor ich zuletzt alle Unbefangenheit des Verkehrs, und um die Heilung meiner Krankheit zu versuchen, zog ich mich wie ein Einsiedler in die Wildnis zurück; d.h. unter dem Vorgeben, die Gegend, Land und Leute recht anzusehen, fing ich an, bei jeder Witterung, gut oder schlecht, den Tag im Freien zuzubringen. Ich hielt mich aber meist auf den waldigen Höhen auf, unter alten Tannenbeständen oder in verlassenen Köhlerhütten, ohne menschliche Gesellschaft, was schon aus dem Grunde gut war, weil ich, immer nur mit dem einen Gegenstande beschäftigt und die Herrschaft über mich selbst vergessend, laut zu denken und zu sprechen begann, besonders mit der Klage über den schmählichen Druck, der mir wie eine fremde Krankheit angeworfen war und den ich hundertmal mit der Hand wegzuwischen suchte.

»Ist diese Teufelei also die wirkliche Liebe?« sagte ich eines Tages laut vor mich hin, als ich unter Bäumen einsam hockte und über das Land wegblickte. »Habe ich nur ein Stück Brot weniger gegessen, als Anna krank war? Nein! Habe ich eine Träne vergossen, als sie starb? Nein! Und doch tat ich so schön mit meinen Gefühlen! Ich schwur, der Toten ewig treu zu sein; dieser Lebendigen aber Treue zu schwören wäre mir nicht einmal möglich, da sich das ja von selbst versteht und ich mir nichts anderes denken kann! Wenn diese schwer erkranken oder gar sterben sollte, würde ich dann imstande sein, dem Ereignis so aufmerksam zuzusehen und es gar zu beschreiben? O nein, ich fühle, es würde mich brechen und die Welt verfinstern! Und welch ein praktischer Kerl bin ich dennoch gewesen, als ich so platonisch, so ganz nach dem Schema liebte und ein grüner Junge war! Wie unverschämt hab ich da geküßt, die Kleine und die Große, zum Morgen- und Abendbrot! Und[796] jetzt, da ich so manches Jahr älter bin und ein Stück Welt gesehen habe, wird es mir schon bang, wenn ich nur daran denke, diese schöne und gute Person zu unbestimmter Zeit irgendeinmal küssen zu dürfen!«

Dann starrte ich wieder in die Luft hinaus; doch kaum waren einige Minuten vergangen, während welcher ich neugierig eine Wolke oder einen Gegenstand am Horizont oder ein schwankendes Reis zu meinen Füßen betrachtete, so kehrten die Gedanken wieder zu ihrer alten Last zurück; denn das eiserne Bild erlaubte nicht, daß sie länger anderswo spazierengingen. Als ich eines Abends einen steilen Klippenpfad hinunterstieg, trat ich in der traurigen Zerstreutheit fehl und torkelte wie ein Sinnloser über die Felsen, daß ich nicht wußte, wie ich unten ankam, und mich zu meiner Kränkung und Beschämung ziemlich verletzte. Ein anderes Mal saß ich im Feld auf einem verlassenen Pfluge, der in der abgebrochenen Ackerfurche stand, und machte wohl ein sehr betrübt dummes Gesicht; denn ein vergnügt grinsender Feldlümmel, der mit einem irdenen Selterskrüglein, das ihm am Rücken hing, dahergeschlenkert kam, stand vor mir still, gaffte mich an und begann endlich unbändig zu lachen, indem er sich mit dem Ärmel über Mund und Nase fuhr. Schon das arme Krüglein tat mir in den Augen weh, da es so stillvergnügt und unverschämt von der Schulter dieses Burschen baumelte, der wahrscheinlich seinen Vespertrunk darin mitgeführt hatte. Wie konnte man ein solches Krügelchen herumtragen, als ob es kein Dortchen in der Welt gäbe?

Da der grobe Gesell nicht aufhörte, dazustehen und mir ins Gesicht zu lachen, stand ich auf, trat weinerlich und leidvoll auf ihn zu und schlug ihn dergestalt hinter das Ohr, daß der arme Kerl zur Seite taumelte; und eh er sich wieder fassen konnte, prügelte ich all das Weh auf den fremden Rücken und zerschlug auch seinen Krug, daß mir die Hand blutete, bis der Feldlümmel, welcher glaubte, der Teufel sei hinter ihm her,[797] sich aus dem Staube machte und erst aus einiger Entfernung anfing, mit Steinen nach mir zu werfen. Nach dieser humanen Heldentat ging ich langsam davon, schüttelte den Kopf und seufzte über soviel Herzeleid, das in der Welt sei!

Von solcher Aufführung selbst angegriffen, dachte ich nicht, mich daran aufzureiben, sondern suchte den Weg, mich aus dem Irrsal zu befreien. Ich musterte und verglich alle Umstände, um feststellen zu können, daß ich nicht der Mensch sei, eine Neigung wie diejenige Dortchens erwecken zu können.

Was dem einen recht, ist dem andern billig! und: Wie du mir, so ich dir! sind zwei goldene Sprüche auch in Liebeshändeln, wenigstens für sonst verständige Menschen, und die beste Kur für ein krankes Herz ist die unzweifelhafte Gewißheit, daß sein Leiden nicht geteilt wird. Nur eigensinnige und selbstsüchtige Verfassungen laufen Gefahr, sich aufzulösen, wenn sie von denen nicht geliebt werden, die ihnen gefallen. Aber was hätte sein können und nicht geworden ist, macht unglücklich, und der Trost hilft nicht, daß die Welt weit sei und hinter dem Berge auch noch Leute wohnen; nur das Gegenwärtige, was man kennt, ist heilig und tröstlich.

Nachdem ich nun ausgemacht hatte, daß Dortchen nicht an mich denke, ward ich etwas ruhiger und begann zu ratschlagen, ob ich zum Danke für ihre Liebenswürdigkeit ihr die Sache entdecken wolle oder nicht. Ich gedachte im ersten Falle, gelegentlich, eh ich abreiste, ihr lachend und manierlich zu gestehen, welchen Rumor sie mir angerichtet, und sie zugleich zu bitten, sich nicht darum zu kümmern; denn nun sei alles wieder gut und ich wohl und munter. Auf der anderen Seite aber tauchte die Besorgnis auf, ein derartiges Geständnis möchte doch als schlaue Liebeswerbung angesehen werden und mich in ein schiefes Licht bringen, der Geliebten aber einen trüben Tag bereiten. Ich verfiel daher wieder in ein unruhiges und trauriges Nachsinnen, ob ich es tun solle oder nicht, bis zuletzt es mir doch möglich schien, mit unbefangenem Vertrauen ihr[798] durch offene Darstellung des über mich gekommenen Ungewitters, unter Scherz und Lachen, eine kleine Erheiterung zu gewähren, die sie wohl verdiene, und mir zugleich die verlorene Ruhe zu verschaffen. Und zwar nahm ich mir vor, es sofort zu tun. Es war eben Sonnabend und das gute Wetter auch für den kommenden Tag in Aussicht. Ich beschloß daher, den Sonntagmorgen mit seinem stillen Glanze zu der verwegenen Verhandlung zu benutzen, heut aber mich nicht mehr sehen zu lassen, um nicht durch neue Eindrücke irre zu werden in meinen Vorsätzen.

Der Morgen geriet auch auf das schönste; ein wirklicher Vorfrühling lachte mit seinem wolkenreinen Himmel durch alle Fenster, und ich war trotz einiger süßen Bangigkeit doch guter Dinge, da ich meiner baldigen Freiheit und Erlösung von der schmählichen Beklemmung entgegensah und mir einbildete, nichts anderes erreichen, zu wollen. Und dennoch beruhte die ganze süße Aufregung, in welcher ich mich feiertäglich herausputzte und fortwährend auf neue Scherze sann, die ich in die bevorstehende Plauderei verflechten wollte, auf dem Selbstbetruge, mit dem ich mir verbarg, daß mich nur der Wunsch beseelte, mit Dorotheen wohl oder übel von Liebe zu sprechen.

Aber es fand sich, daß sie schon am Sonnabend meilenweit weggefahren war, um eine Freundin zu besuchen, daß sie von dort nach der Residenz gehen und überhaupt mehrere Wochen abwesend sein werde. Damit war alle meine Hoffnung zunichte und der blaue Himmel in meinen Augen schwarz wie die Nacht. Das erste, was ich tat, war, daß ich wohl zwanzigmal den Weg vom Gartenhaus nach dem Kirchhof hin und zurück ging und mich dabei auf die Seite des Pfades drückte, an welcher Dortchen mit dem Saume ihrer Gewänder hinzustreifen pflegte. Aber auf diesen Stationen brachte ich nichts heraus, als daß das alte Elend mit verstärkter Gewalt wieder da war und die Vernunft wie weggeblasen. Das Gewicht im Herzen war auch wieder da und drückte fleißig darauf los.[799]

Der Graf hatte die ganze Zeit über seiner einzigen Leidenschaft, der Jagd, gelebt und war daher wenig zu Hause geblieben. Jetzt schien er der Sache etwas müde zu sein und begann mich wieder aufzusuchen. Er fand mich in der Kapelle, da ich keinen Grund mehr hatte, in die Wildnis zu laufen, und hier am einsamsten war.

»Wie steht's denn mit den Bildern, Meister Heinrich?« sagte er, mir auf die Schulter klopfend, »rücken sie vor?«

»Nicht sonderlich!« erwiderte ich kleinlaut und trübselig.

»Es eilt ja nicht, Sie sind uns noch lange willkommen! Dennoch seh ich Ihnen am Gesicht an, daß es gut ist, wenn Sie von der Sache mit guter Manier bald frei werden.«

Du triffst es besser, als du weißt! dachte ich und machte mich plötzlich mit so grimmiger Entschlossenheit an die Arbeit, daß ich vor Ablauf von drei Wochen mit den Bildern fertig war. Während sie zum Trocknen an der Luft standen, bestellte ich beim Tischler die Kisten, in denen sie nach der Hauptstadt gesendet werden sollten. Dann stellte ich einige Streifereien an, um nicht stilliegen zu müssen, und als ich eines Abends spät nach Hause kehrte, sah ich vom Garten aus Dorotheens Zimmer erleuchtet. Mit dem Schlaf, den ich während der letzten fleißigen Tage wiedergefunden, war es nun abermals aus, obgleich ich noch nicht wußte, daß sie wirklich da war.

Am Morgen erschien Röschen und berief mich zum Frühstücke, welches ihrer Ankunft zu Ehren gemeinsam eingenommen werde. Als ich ins Schloß kam, erklang ihre Stimme durch das Haus; sie spielte und sang wie eine Nachtigall am Pfingstmorgen, und alles war voll Leben und Fröhlichkeit; nur ich war traurig und einsilbig, da das Scheiden nun doch vor der.

Türe stand.

Sie schien aber nichts davon zu merken, sondern trieb allerlei Mutwillen, der mich immer wieder aufregte und verwirrte; dabei wandte sie sich immer an andere und brauchte vorzüglich das dienstfertige Röschen als Trägerin und Gehilfin ihrer Possen.[800] Als dieses gelegentlich ein kleines Silberlachen hören ließ, das ich auf meine düstere Laune bezog, lief ich dem Mädchen nach, packte es und faßte es in den Arm, indem ich mit der anderen Hand sein Köpfchen festhielt.

»Wer wird hier ausgelacht, und was willst du denn, du Gänseblümchen?« rief ich. Das blühende Kind zappelte und sträubte sich, lachte aber fort. Unversehens hielt es still und flüsterte mir ins Ohr:

»Lassen Sie uns doch lachen! Das gnädige Fräulein ist so vergnügt und zufrieden, daß sie wieder da ist! Wissen Sie warum?«

Als ich das schlimme Geschöpf verblüfft und errötend freiließ, legte es mir die Hand auf die Schulter und lispelte weiter:

»Sie war so traurig die ganze Zeit, denn sie ist verliebt! Wissen Sie, in wen?«

Ich fühlte das Herz beinah stillstehen und sagte tonlos: »Nun, in wen denn?«

»Ein Rittmeister bei den Kürassieren!« hauchte sie nun ganz leise, »himmelblaue Tracht, schneeweißer Mantel, Stahlharnisch und hoher Silberhelm, ein geschwungener Kamm darauf, und das Ganze schön wie ein Hektor, sagt sie, obgleich unser schwarzer Hund so heißt!«

Damit sprang sie davon und eilte der Herrin nach, die schon vorher entschlüpft war. Ich merkte freilich, daß Scherz getrieben wurde; allein die Schilderung eines schönen Reiteroffiziers bekam mir an sich schon nicht gut in solchem Zusammenhange.

Glücklicherweise langten die Kisten für die Bilder an, welche sofort eingepackt wurden. Ich schlug selbst die Nägel in die Deckel, daß die Kapelle von den zornigen Schlägen widerhallte; denn mit jedem Schlage nahm ich mir gewisser vor, am nächsten Tage fortzugehen, und so dünkte es mir, als nagle ich den eigenen Sarg zu. Aber nach, jedem Schlage schallte ein klangreiches Gelächter oder ein fröhlicher Triller von den Korridoren und Treppen her, die Mädchen jagten hin und wider und schlugen Türen auf und zu.[801]

Das bewirkte, daß ich in meine Gartenwohnung ging und gleich auch den Reisekoffer packte, den ich samt neuem Inhalt bei meinem letzten Aufenthalt in der Residenz gekauft hatte. Als ich damit fertig war, ging ich höchst schwermütig, aber gefaßt ins Freie und nach dem Kirchhofe; dort setzte ich mich auf Dortchens Lieblingsbank und hoffte, sie werde etwa herkommen und ich wenigstens noch einige Minuten bei ihr sitzen können ohne Bosheit noch Gefährde, um sie nochmals recht anzusehen. Sie kam auch richtig nach einer Viertelstunde herangerauscht, aber von der Gärtnerstochter und dem schwarzen Hektor begleitet. Da entfernte ich mich eiligst, im Glauben, sie hätten mich noch nicht gesehen, und lief hinter die Kirche. Als ich dort die Mädchen wieder sprechen und lachen hörte, ging ich in der Verwirrung in das Dorf und betrat das Pfarrhaus, um beim Kaplan Zuflucht zu suchen, angeblich aber um meine Abreise anzukündigen.

Ich fand ihn essend am Tische sitzen, über den die Nachmittagssonne wegschien.

»Ich esse hier mein Vesperbrötchen«, sagte er, »wollen Sie nicht mithalten?«

»Ich danke«, erwiderte ich; »wenn Sie es erlauben, so will ich Ihnen sonst ein wenig Gesellschaft leisten!«

»Das sind mir junge Leute heutzutage«, sagte der Hochwürdige, »das hat ja gar keinen ordentlichen deutschen Appetit mehr! Na, die Gedanken sind auch danach, da kann freilich nicht viel anderes herauskommen als nichts und wieder nichts!«

»Seit wann sind Hochwürden so materialistisch?«

»Verwechseln Sie mir nicht das Erschaffene mit dem Unerschaffenen, unseliger Adept, und nehmen Sie Platz! Ein Schluck Bier wird Ihnen mindestens nicht zu schwer sein!«

So beschäftigte er sich eifrig weiter mit der großen Schüssel, die vor ihm stand. Dieselbe enthielt die Anhängsel und Profilstücke eines frischgeschlachteten Schweines, die Ohren, die Schnauze und den Ringelschwanz, alles soeben gekocht und[802] dem Geistlichen lieblich in die Nase duftend. Er pries das aufgetürmte Gericht als unübertrefflich an einfacher Zartheit und Unschuld und trank einen tüchtigen Krug goldenbraunen Bieres dazu.

Als ich etwa zehn Minuten dagesessen hatte, klopfte es an der Türe, und Dorothea trat, nur von dem schönen Hunde begleitet, anmutig und höflich herein, schien aber ein klein wenig befangen zu sein.

»Ich will die Herren nicht stören«, sagte sie, »und wollte nur den Herrn Kaplan bitten, heute abend bei uns zu sein, da Herr Lee morgen fortreist. Sie sind doch nicht abgehalten?«

»Gewiß werde ich kommen!« erwiderte der Pfarrer, der sich schon wieder gesetzt hatte und seine angenehme Arbeit fortsetzte, »bitte, mein Liebster, holen Sie doch einen Stuhl für das gnädige Freulein!«

Das tat ich mit großem Eifer und stellte einen zweiten Stuhl an den Tisch, mir gerade gegenüber. Dorothea dankte mit freundlichem Lächeln und sah bescheiden vor sich nieder, indem sie Platz nahm. Nun war ich doch glückselig, da ich in der wohnlichen und sonnigen Priesterstube ihr gegenübersaß und sie sich so gutmütig und still verhielt. Der Kaplan sprach essend und immer allein, und wir brauchten ihm nur zuzuhören, indes der Hund mit feurigen Augen und offenem Manne auf Schüssel, Hände und Mund des Hochwürdigen starrte.

»Ach, der arme Hund, wie es ihn gelüstet!« sagte Dortchen, »essen Sie dies auch, Herr Kaplan, oder erlauben Sie, daß ich es ihm gebe?«

Sie zeigte hiebei auf das krumme Schwänzchen, das sich manierlich auf dem Rande der Schüssel darstellte.

»Dies Sauschwänzchen?« sagte der Kaplan, »nein, mein Fräulein, das können Sie ihm nicht geben, daß eß ich selber! Warten Sie, hier ist etwas für ihn!« und er setzte dem lüsternen Tier einen Teller vor, in welchen er allerhand Knöchelchen und Knorpelwerk geworfen hatte. Dortchen und ich sahen uns[803] unwillkürlich an und mußten lächeln, weil die ungetrübte Freude des Geistlichen an dem bescheidenen Gegenstande uns erheiterte. Auch der Hund, der sich begierig mit seinem Teller unterhielt, vermehrte durch seine Behaglichkeit die gute Stimmung. Dortchen streichelte ihm den Kopf, als ich eben mit der Hand über seinen glänzenden Rücken fuhr, und als sie achtlos Gefahr lief, mir mit ihrer Hand zu begegnen, zog ich die meinige höflich zurück, wofür sie mich schnell mit einem halben Lächeln anblickte.

Am offenen Fenster wehten die Vorhänge, sachte von der Luft bewegt, und vor demselben tanzte ein Schwarm schimmernder Mücklein in der Sonne, die einzelnen kaum erkennbar, mit einer Hast und Leidenschaft durcheinander, als ob sie die Kürze der ihnen verliehenen Frist gekannt hätten, die sich vielleicht nach halben Stunden berechnete.

In diesem Augenblick wurde der geistliche Herr von der Haushälterin abgerufen, um an Stelle des abwesenden Pfarrers einem vorbeschiedenen unfriedfertigen Ehepaar Audienz zu erteilen.

»Das muß doch immer gezankt haben, es ist ein Graus mit diesen Eheleuten!« rief der über die Störung ungehaltene Zölibatär; »räumt den Tisch ab, Therese, ich esse nachher nicht mehr!«

Damit lief er nach dem Studierzimmer des Pfarrers, ohne uns zu verabschieden, und wir waren so veranlaßt, an dem weißgedeckten Tische sitzen zu bleiben; denn die Wirtschafterin nahm bloß Schüssel und Teller mit und ließ das Tuch liegen. Ich blickte wortlos auf die runde weiße Fläche, die, von der jungen Sonne beleuchtet, zwischen uns glänzte. Das Wort »Eheleute«, das der Geistliche zuletzt ausgesprochen, klang gleichsam noch in der Luft, da niemand sprach; denn auch Dortchen saß schweigend da, die Hand auf den Kopf des Hundes gelegt, der mit seinem Schmause auch fertig war. Das verfängliche Wort klang aber nicht mit seinem Zusammenhange[804] nach, sondern erweckte mir die Vorstellung von zwei Leutchen, die glücklich in häuslicher Abgeschlossenheit am Tische sich gegenübersitzen. Es war, als ob das weiße Rund sich mit Bildern des Glückes belebte, und es ergriff mich ein tiefes Leiden um Dortchen, da es mir beim Himmel nicht möglich schien, daß sie anders als an meiner Seite glücklich und zufrieden alt werden könne. Mit einem Seufzer richtete ich die feucht werdenden Augen auf und sah erschrocken, wie Dortchens Augen mit Teilnahme auf mir zu ruhen schienen, während den geschlossenen Lippen ein weicher, nicht unfreundlicher Ernst den schönsten Ausdruck gab und das Haupt nachdenklich sich leicht seitwärts neigte. Auch nachdem ich aufgeblickt, veränderte sie Haltung und Ausdruck nicht sofort, und erst als ihre Augen auch einen feuchtern Glanz bekamen, nahm sie sich zusammen. Das Bild dieses Augenblickes ist mir auch geblieben gleich dem stillen Glanz eines Sternes, den man einmal in ungewöhnlich klarer Luft leuchten sah und niemals vergißt.

Ich rang nach Worten, um das Schweigen zu unterbrechen, und Dortchen, mit dem gleichen Bestreben schneller fertig, öffnete eben den Mund, als die Wirtschafterin des Pfarrhauses wieder eintrat und nicht mehr wegging, da sie sich berufen fühlen mochte, die junge Herrschaftsdame zu unterhalten. Es dauerte nicht lang, so kehrte auch der Kaplan von seinem Geschäft zurück, das er rascher erledigt, als er gehofft hatte, und da sich nun ein haushälterisches Gespräch abzuspinnen begann, benutzte ich die Gelegenheit, grüßte und entfernte mich, um mein volles Herz hinauszuflüchten. Dortchen sah mir nach und rief mir zu, ich möge doch nicht zu spät im Schlosse erscheinen.

Nach einigem Herumstreifen gelangte ich an die Stelle, wo ich bei meiner Ankunft aus dem Walde herausgetreten war und die abendliche Regenlandschaft mit dem Gute und der alten Kirche erblickt hatte. Ich ging auf die Kirche zu und in dieselbe hinein, und da ein altes Mütterchen darin kniete und ihr Gebet murmelte, schlich ich hinter ihr weg in eine Art Krypta, welche[805] den ältesten Teil des Gebäudes und einen halbdunklen Raum bildete, dessen romanische Fenster zur Hälfte vermauert waren. In diesem Raum waren im Laufe der Zeit eine Menge Gegenstände untergebracht worden, die ihn verengten.

Vorzüglich tat dies ein Grabmal von schwarzem Kalkstein, auf welchem ein langer Ritter ausgestreckt lag, die Hände auf der Brust gefaltet. An seiner Seite, auf dem Rande des Sarkophages, stand eine fest verschlossene und verlötete Büchse von Bronze in Form einer kleinen Urne, zierlich gegossen und ziseliert und mit einer schlanken Kette vom nämlichen Metall an dem Brustharnisch des steinernen Ritters befestigt. Nach der Überlieferung enthielt die Büchse das einbalsamierte und vertrocknete Herz des Beigesetzten, und das Gefäß wie die Kette war gänzlich oxydiert und schillerte grünlich im Zwielicht der Krypta. Das Grabmal aber gehörte einem burgundischen Ritter an, der gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, von wilder und unsteter, aber ehrlicher Natur, von allerhand Unstern und Frauenmißhandlung verfolgt, durch die Länder geirrt war und bei den Vorfahren des Grafen hier seine letzte Zuflucht gefunden hatte, wo das Herz dann endlich an einem letzten Verrate gebrochen sein sollte.

Das Grabmal hatte er sich selbst gestiftet und den einsamen Platz dazu ausgebeten; die Gruft des gräflichen Geschlechtes war schon damals in die größere Kirche verlegt worden. An das Herz in der Büchse knüpften sich verschiedene Sagen, die vom Volke erzählt wurden, wie zum Beispiele der »verliebt Burgauner« verordnet habe, sein Herz solle so lang auf seinem Grab angebunden bleiben, bis lebendig oder tot eine gewisse Dame komme und es in das Vaterland heimhole, und geschehe es nicht, so sollte sie sowenig die ewige Ruhe finden, als er sie zu finden hoffe; ein jedes andere Weibsstück aber, so die Büchse mit dem Herzen in die Hand zu nehmen sich erdreiste, soll gehalten sein, dieselbe dreimal zu küssen und drei Vaterunser zu beten, sonst werde der verliebt Burgauner ihr die Hand lahm[806] machen oder ein Knie brechen und dergleichen. Solche Überlieferungen mochten auch bewirkt haben, daß die Kapsel samt der Kette sich so lange Zeit an Ort und Stelle erhalten hatte.

Dem romantischen Denkmale gegenüber saß ich in einem dunklen Winkel zwischen ausgedienten Tabernakeln und Prozessionsgerätschaften und überließ mich den Gedanken über die bevorstehende Trennung, die um so trauriger waren, als ich in dieser letzten Stunde mir sagen mußte, bei aller Abenteuerlichkeit des Erlebten werde das Glück schwerlich so weit gehen, mir auch noch mit einer Eroberung so glänzender Art aufzuwarten, wie sie mir im Sinne lag. Zu dieser planen Einsicht drängte mich die Not des entscheidenden Augenblickes, und hiezu gesellte sich die Beschämung Über die kindische Art, in die ich verfallen, sofort nach dem Glänzenden zu greifen. Mit solchen Gefühlen ringend, suchte sich dann die versöhnte Neigung, die, nichts für sich hoffend, nur dem Geliebten zugetan sein will, emporzuarbeiten, soweit sie nicht auch wieder eine verkleidete Begehrlichkeit war; kurz, ich brachte dergestalt die Zeit in der Dämmerung der Krypta zu, bis ich von der äußeren Kirche her ein Getrippel leichter Schritte und zugleich weibliche Stimmen vernahm. Aufhorchend erkannte ich sie als Dorotheas und Röschens Stimmen. Die Mädchen schienen diesmal nicht zu lachen, sondern angelegentlich etwas zu beraten. Doch bald dauerte ihnen der Ernst zu lang; denn sie kamen über die paar Stufen herunter in die Krypta gehuscht, und Dorothea rief: »Komm, Röschen, wir wollen wieder einmal den verliebten Ritter besehen!«

Sie stellten sich vor das Grabmal und schauten dem steinernen Manne neugierig in das dunkle ehrliche Gesicht.

»O Gott! ich fürchte mich«, flüsterte Röschen und wollte entfliehen. Dortchen aber hielt jene fest und sagte laut:

»Warum denn, Närrchen? Der tut niemand was zu leid! Sieh, wie es ein guter Kerl ist!«

Sie nahm das erzene Gefäß in die Hand und wog es bedächtig[807] in derselben; aber plötzlich schüttelte sie es, so stark sie konnte, auf und nieder, daß das eingetrocknete Etwas, das seit vierhundert Jahren darin verschlossen lag, deutlich zu hören war und die Kette dazu klang. Dortchen atmete heftig; da ein Strahl des Tages auf ihr Gesicht fiel, sah ich, wie dasselbe die Farbe wechselte und von einer rosigen Röte in Marmorblässe überging.

»Höre die Klappernuß, wie sie raschelt!« rief sie, »da, klappre auch damit!«

Sie drückte dem zitternden Röschen das Gefäß in die Hände; aber es tat einen Schrei und ließ das Herz fallen, und Dortchen fing es mit aller Gewandtheit auf und ließ es abermals klappern.

Ich, von dessen Gegenwart sie keine Ahnung hatten, schaute ganz erstaunt dem Spiele zu.

Wart, du Teufel! dachte ich, dich will ich schön erschrecken!

Schnell trocknete ich die nassen Augen, stieß einen hohlen Seufzer aus und sprach mit einer traurigen Stimme, die ich gar nicht sehr zu verstellen brauchte, in älterm Französisch:

»Dame, s'il vous plaist, laissez cestuy cueur en repos!«

Mit einem Doppelschrei flohen die Mädchen aus der Krypta und der Kirche wie besessen, Dortchen voraus, welche mit einem schwungvollen Satz über die Stufen und die Schwelle der Kirchentüre hinaussprang, schneebleich, aber immer noch lachend ihr Kleid zusammennahm und über den Kirchhof wegeilte, bis sie zu ihrer Ruhebank kam und sich auf dieselbe warf, was ich alles durch eines der Fenster beobachten konnte, das ich rasch erklettert hatte.

Dortchen, deren Gesicht fast die Farbe ihrer weißen Zähne hatte, lehnte sich zurück, die Hände um das Knie geschlungen, und Röschen rief:

»Du großer Gott, es hat gespukt!«

»Jawohl, es spukt, es spukt!« sagte Dortchen und lachte wie eine Tolle.[808]

»Du Gottlose! Fürchtest du dich denn gar nicht? Klopft dein Herz nicht schrecklicher, als das tote Herz dort geklappert hat?«

»Mein Herz?« antwortete Dortchen, »ich sage dir, es ist guter Dinge!«

»Was hat es denn gerufen?« fragte Röschen, die immerfort beide Hände an ihr eignes Herz hielt und abwechselnd prüfte, ob sie noch beweglich seien; »was hat das französische Gespenst gesagt?«

»›Fräulein‹, hat es gesagt, ›wenn es Euch gefällt, so nehmt dies Herz und macht es zu Euerem Nadelkissen!‹ Geh wieder hin und sag, wir wollten uns bedenken! Geh, geh, geh!«

Sie sprang auf, als ob sie die hübsche Dienerin wirklich nach der Kirche zurückschieben wollte, umhalste sie aber unversehens und drückte ihr heftige Küsse auf die Wangen. Dann verschwanden beide unter den Bäumen.

Eine gute Weile später stieg ich auch aus meinem Schlupfwinkel hervor, um die letzten Dinge zu besorgen, die noch übrig waren. Ich ging in das Parkhaus und stellte die Reisefertigkeit vollständig her; richtig war der Schädel beim Packen des Koffers wieder vergessen worden, weshalb ich nochmals Raum schaffen mußte. Zuletzt war auch er untergebracht, und zwar als die einzige Habseligkeit von denen, die ich einst aus der Heimat in die Fremde mitgenommen hatte. Darum war mir auch, als ich es recht bedachte, die arme Scherbe erst jetzt wert; lange Jahre schon hatte sie in der heimatlichen Erde gelegen, dann mit mir die Kammer geteilt und, wenn auch als ein stummes Geräte, meine vergangenen Tage gesehen, und so kehrte ich wenigstens nicht ganz vor der alten Ausstattung entblößt zurück.

Dies verrichtet, begab ich mich zum Grafen, die Unterredung mit ihm zu halten, die durch die letzten Stunden meines Hierseins sowie schon von der Pflicht der Dankbarkeit gefordert wurde. Er wollte aber jetzt nichts von solchen Verhandlungen wissen, sondern bestand darauf, mich abermals nach der Hauptstadt[809] zu begleiten und Zeuge zu sein, wie ich es mit meinen Bildern anfangen und es mir ergehen würde.

Man müsse verhüten, sagte er, daß ich nicht schon nach dem ersten Anlaufe wieder einen Trödler aufsuche. Das wäre nicht zu befürchten, antwortete ich, weil ich ja nun reich genug wäre, die Bilder für einstweilen zu behalten und mit nach Hause zu bringen, wo sie sogar Zeugnis über die Art, wie ich die Zeit verbracht, ablegen könnten. Nichts da, meinte er, in der Kunststadt müßten sie ihre Wirkung tun, sonst habe mein bevorstehender Entschluß nicht die rechte Grundlage.

Vom Grafen hinweg ging ich auf die Terrasse, wo ich die kurze Zeit bis zur Stunde der abendlichen Zusammenkunft zubringen wollte. Auf einem Tische des dahin führenden Gemaches stand eine Schüssel mit feineren Zuckersachen, wie man sie in buntes Papier zu wickeln und mit allerlei Sinnsprüchen oder sogenannten Devisen zu begleiten pflegt. Dorothea hatte die Gewohnheit, dergleichen Naschwerk selber zu wickeln und statt der gewöhnlichen trivialen Reimereien gute Sinngedichte, Distichen und Liederstrophen einzulegen, welche sie aus allen möglichen Dichtern und verschiedenen Sprachen zusammensuchte. Sie ließ ganze Sammlungen solcher Zierlichkeiten auf Bogen drucken, die man nach Bedürfnis zerschneiden konnte, und besaß das Talent, jeweilig eine so artige Auswahl zusammenzubringen, daß die Gesellschaft beim Nachtische durch anmutig heitere oder witzige und spitzige Vorstellungen oder auch beides abwechselnd nicht selten in angeregte Stimmung versetzt wurde. Auch trieb sie allerhand Schwank, indem sie oft zwei Zeilen aus verschiedenen Dichtern zusammenfügte, und man glaubte, Bekanntes zu lesen, indessen die neue Wendung, der entgegengesetzte Sinn, welchen das Unbekannt-Bekannte ergab, die Leser in die Irre führte. Einen Vorrat dieses so zubereiteten Naschwerkes, in einem Körbchen von Silberdraht geordnet, das sie beim Gebrauche noch mit Blumen schmückte, hielt sie jederzeit bereit und bot es bei gegebener Veranlassung[810] selbst herum. Mir sagte die Spielerei eigentlich nicht sehr zu; doch hielt ich sie aus verliebter Rechtgläubigkeit, wo nicht für großartig, mindestens für verzeihlich und liebenswürdig, wie man ja immer froh ist, kleine Mängel an geliebten Personen zu finden, um sie nur ohne Verzug verzeihen und sogar mitlieben zu können.

Jetzt war Dortchen offenbar beschäftigt, ein solches Körbchen neu zu füllen, und wahrscheinlich von der Arbeit unerwartet abgerufen worden. Da ich mich durch den Auftritt in der Krypta und den bevorstehenden Abschied freier fühlte als sonst und mir nichts daraus machte, von der Zurückkehrenden betroffen zu werden, setzte ich mich an den Tisch und besah mir, was Dorothea heute betrieb. Sie hatte in der Tat schon eine gute Zahl süßer viereckiger Täfelchen in glänzendes Papier eingeschlagen und in das Körbchen gelegt; als ich nachschaute, was für eine Art von Versen und Epigrammen sie bereithielt, fand ich ein Büschel kleiner, auf zartes grünes Papier gedruckter Zettel, auf welchen allen dasselbe und einzige Gedichtlein zu lesen war:


Hoffnung hintergehet zwar,

Aber nur, was wankelmütig;

Hoffnung zeigt sich immerdar

Treugesinnten Herzen gütig;

Hoffnung senket ihren Grund

In das Herz, nicht in den Mund!


Wo ich das kleine Papierbüschel sachte auseinanderschlug (es war von einem grünseidenen Bändchen zusammengehalten), überall blickten mir diese einfachen, treuherzigen und doch so aufregenden Worte entgegen. Vorsichtig griff ich das eine und andere der bereits fertigen Täfelchen aus dem Körbchen, machte es ein wenig auf und fand in jeder Hülle das gleiche grüne Liedchen. Es klang mir wie der tröstende Ruf einer Wachtel im einsamen Feld oder der leis an schwellende und traulich abbrechende halbe Gesang einer Drossel in der Tiefe des Waldes.[811]

Da meines Wissens heute keine größere Gesellschaft da war, die einen Nachtisch erheischen konnte, so mußte die Absicht von Dortchens diesmaligem Einfall einer zukünftigen Gelegenheit vorbehalten sein, die mir ein Geheimnis war. Plötzlich ließ ich alles liegen und schlüpfte auf die Terrasse hinaus, wo ich mich auf einen Stuhl warf und mit nachdenklichen Seufzern die noch übrige Zeit verbrachte. Es dauerte nicht lange, so erschien Dortchen mit einigen jungen blaßroten Rosen, die sie ohne Zweifel im Treibhause geholt, und mit einem brennenden Handleuchter, weil die Dämmerung begann, zur Dunkelheit zu werden. Sie setzte unbesorgt ihre Arbeit fort, packte noch ein halbes Dutzend Zucker- und Vanillestücke und dergleichen mit den Zetteln zusammen und summte dazu mit halber Stimme mehrmals die zwei Zeilen:


Hoffnung hintergehet zwar,

Aber nur, was wankelmütig,


bis sie mit dem letzten Stücke auf den Schluß übersprang:


Hoffnung senket ihren Grund

In das Herz, nicht in den Mund!


und denselben mit weiß Gott welcher Melodie und etwas lauter in den tiefsten Tönen verklingen ließ, deren ihre Stimme fähig war. Dann barg sie rasch den ungebrauchten Rest der feinen Zettelchen in einer Tasche ihres Kleides, besteckte das Körbchen mit den Rosen und eilte mit der ganzen reizenden Veranstaltung, den Leuchter zur Hand nehmend, aus dem Saale, und ich hatte dem lieblichen Tun durch eines der hohen Fenster zugeschaut, freilich von den Florbehängen desselben halb verhüllt.

Die vergnügliche Stimme des Kaplans ließ sich hören; ich säumte nicht, über die Terrassenstufen hinunter- und ihm entgegenzugehen, und betrat in seiner Gesellschaft wieder das Haus und die Räume, in welchen die Abende zugebracht wurden.[812] Mit diesem künstlichen Umwege verhütete ich, daß Dortchen irgendwie ahnen könne, ich wisse das sonderbare Geheimnis ihres Körbchens. Als wir nun zu viert am Tische saßen, verlief die Zeit mir nur allzu schnell; denn die Eigenliebe erfreute sich an dem Wohlwollen, welches meine Person zum Gegenstande der letzten Unterhaltung machte, und die Gewißheit, daß ich wirklich zum letzten Male Dortchens Gegenwart genieße, verkürzte die Stunden um das Doppelte. Der Graf meinte, er habe sich an meine Gesellschaft gewöhnt, und wenn es sich nur um ihn handelte, so ließe er mich noch lange nicht ziehen; der Kaplan aber rief nein, ich müsse gehen, damit ich, was er sicher hoffe, durch die Luftveränderung und in meinem schönen Vaterlande die verlorenen Ideale wiederfinde.

Lachend versetzte ich, nach gewissen Weissagungen meiner Träume werde ich jedenfalls zu neuen Ideen kommen, und ich erzählte von der kristallenen Treppe, in deren Stufen die Ideen in Gestalt kleiner Frauensleutchen schliefen. Der Kaplan wunderte sich hierüber und guckte mich immer verdutzter an, als ich fortfuhr, jene Ausgeburten des Schlafes in unglücklicher Zeit zu schildern; denn hiemit bewies ich ihm, daß ich im Schlafe noch toller, das heißt idealischer sein könne nach seinen Begriffen als er im Wachen. Ich erzählte von der Brücke der Identität, von dem Goldregen, den ich auf dem fliegenden Pferde gemacht, und wie ich über das Kirchendach heruntergepurzelt und endlich in Trübseligkeit vor dem mütterlichen Hause gestanden sei, nachdem mir dasselbe erst wunderbar in die Augen geglänzt habe.

Da ich von dem feurigen Extraweine, welchen wir tranken, etwas vorlauter Laune geworden, schmückte ich diese Dinge noch mit manchen Zutaten und Hirngespinsten aus und endigte zuletzt wie ein Märchenerzähler, der dem Volke seinen blauen Dunst vorgemacht.

»Der hat ja ein Maul wie eine laufende Schuld!« sagte der Kaplan, in seiner Verwirrung über die großartige Flunkerei zu[813] dem gröblichen Volksausdrucke greifend; denn ich schien ihm arg ins Handwerk gepfuscht zu haben, indem ich ein wirklich Erlebtes schilderte, das doch ein Nichts, ein Traum war; der Graf sagte:

»Diese Beredsamkeit haben wir allerdings bisher an unserm Freunde nicht entdecken können! Ist es aber nun geschehen, so hindert mich nichts, mir zu denken, daß ich sie eines Tages zu ernsteren Dingen verwendet sehe. Wir wollen auf unser aller gute Zukunft anstoßen!«

Er schenkte die Gläser voll, und wir ließen dieselben zusammenklingen, ohne daß ich mich jedoch bemühte, über den Sinn seiner Worte klarzuwerden; denn ich sah unversehens Dorothea mit dem rosengeschmückten Körbchen herankommen.

»Auch ich will einen Spruch tun«, sagte sie, als sie mir zur Seite stand; »aber ich überlasse die Abfassung dem Zufall dieses wohlbekannten Orakelkorbes; nehmen Sie sich ein Bonbon heraus, nur eines, aber vorsichtig und bedächtig!«

Ich sah erstaunt und fragend zu ihr auf; denn ich wußte ja, daß in jedem der zierlichen Paketchen der gleiche Spruch lag.

»Welches raten Sie mir denn zu nehmen?« fragte ich mit innerer Bewegung; allein gleichmütig erwiderte sie:

»Ich darf mich nicht dareinmischen, wenn das Orakel wirken soll!«

»Soll ich dieses nehmen?«

»Ich weiß nicht!«

»Oder dieses?«

»Ich sage nichts, weder ja noch nein!«

»So nehm ich dieses und bedanke mich schönstens!« rief ich, indem ich das Papierchen öffnete und Dortchen rasch das Körbchen zurückzog.

»Nun, was steht darin?« rief der Kaplan, über welche Frage ich froh war, da ich die Verse kaum vernehmbar vorzutragen vermochte. Ich gab ihm den Zettel mit der Bitte, denselben selbst zu lesen. Das tat er mit gutem Ausdruck.[814]

»Ein ganz schöner Spruch!« sagte er; »damit können Sie zufrieden sein; er beruht auf einer frommen und getreuen Weltanschauung, dergleichen nicht mehr allzu häufig ist! Aber nun, Gnädigste! reichen Sie mir das Körbchen auch dar, und lassen Sie mich sehen, was ich als Dableibender erhalten werde!«

Er griff begierig nach dem Körbchen. Sie versetzte aber:

»Nächsten Sonntag dürfen Sie etwas zum Dableiben auswählen, Hochwürden! Heute bekommt nur der, welcher geht!« Damit eilte sie weg und verschloß das Körbchen sorgfältig in einem Schranke.

Als am nächsten Vormittag der Graf und ich bereits in dem bequemen Reisewagen saßen, sagte Dorothea, die uns beiden schon die Hand gegeben und jetzt plötzlich nochmals zum Wagen trat: »Nun ist doch etwas vergessen! Ihr grünes Buch, Herr Heinrich, liegt noch in meiner Verwahrung! Soll ich es rasch holen?«

»Laß nur!« sagte mein Reisegefährte; »es hält uns zu lange auf; wenn er uns, wie zu hoffen, bald schreibt, so können wir ihm das Buch wohlbehalten nachsenden, nicht so?«

Ich nickte nur froh aufatmend meine Zustimmung, da mit dem Buche ein Teil meiner selbst in der unmittelbaren Nähe Dortchens zu bleiben schien.

»Ich will es in sicherm Verschluß halten, und es soll ihm nichts geschehen!«, sagte sie und winkte mir, während wir wegfuhren, mit vollem freundlichem Blicke zu. Damals habe ich das schöne Wesen dennoch zum letzen Mal in meinem Leben gesehen.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 787-815.
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