Sechzehntes Kapitel

Der Tisch Gottes

[839] Etwa ein Jahr später besorgte ich die Kanzlei eines kleinen Oberamtes, welches an dasjenige grenzte, worin das alte Heimat Dorf lag. Hier konnte ich bei bescheidener und doch mannigfacher[839] Wirksamkeit in der Stille leben und befand mich in einer Mittelschicht zwischen dem Gemeindewesen und der Staatsverwaltung, so daß ich den Einblick nach unten und oben gewann und lernte, wohin die Dinge gingen und woher sie kamen. Allein sie vermochten die Schatten nicht aufzuhellen, die meine ausgeplünderte Seele erfüllten, und weil alles, was ich wahrnahm, durch die Düsternis gefärbt wurde, so erschienen mir auch die Menschlichkeiten, denen ich auf dem neuen Gebiete begegnete, dunkler, als sie an sich waren. Wenn ich sah, daß auch hier die Neigung zum Nachlassen und zur Pflichtvergessenheit zum Vorschein kam oder jeder die Wässerlein auf seine Mühle zu leiten suchte, daß Neid und Eifersucht auch in den kleinsten Amtsverhältnissen störend sich einnisteten, so war ich geneigt, das Übel dem Charakter des ganzen Volkes und Gemeinwesens zuzuschreiben, das in der Erinnerung und aus der Entfernung mich so täuschend angelockt habe. Wenn ich aber meines belasteten Bewußtseins gedachte, so schwieg ich, anstatt bei guter Gelegenheit meine Meinung offen herauszusagen. Ich begnügte mich, meine Obliegenheiten so regelmäßig und geräuschlos als möglich zu erfüllen, um die Zeit zu verbringen, ohne Unruhe, aber auch ohne Hoffnung eines frischern Lebens. Das hielten nun die Leute für das Muster einer ordentlichen Amtsführung, und da sie besser und wohlwollender waren, als ich dachte, so machten sie mich nach ein paar weiteren Jahren, ohne mein Zutun und gegen meinen Wunsch, zum Vorsteher des Amtskreises. In dieser Stellung konnte ich nicht umhin, mehr unter die Leute zu gehen und an Zusammenkünften verschiedener Art teilzunehmen, immer als der ziemlich melancholische und einsilbige Amtsmann, der ich war. Jetzt lernte ich, da ich die politische Bewegung im großen und mehr in der Nähe sah, ein Übel kennen, das mir wirklich neu, obgleich es zum Glücke nicht gerade herrschend war. Ich sah, wie es in meiner geliebten Republik Menschen gab, die dieses Wort zu einer hohlen Phrase machten und damit umherzogen, wie die Dirnen, die[840] zum Jahrmarkt gehen, etwa ein leeres Körbchen am Arme tragen. Andere betrachteten die Begriffe Republik, Freiheit und Vaterland als drei Ziegen, die sie unablässig melkten, um aus der Milch allerhand kleine Ziegenkäslein zu machen, während sie scheinheilig die Worte gebrauchten, genau wie die Pharisäer und Tartüffe. Andere wiederum, als Knechte ihrer eigenen Leidenschaften, witterten überall nichts als Knechtschaft und Verrat, gleich einem armen Hunde, dem man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält. Auch dies Knechtschaftswittern hatte einen gewissen kleinen Verkehrswert, doch stand das patriotische Eigenlob immerhin noch höher. Alles zusammen war ein schädlicher Schimmel, der ein Gemeinwesen zerstören kann, wenn er zu dicht wuchert; doch befand sich die Hauptschar in gesundem Zustande, und sobald sie sich ernstlich rührte, stäubte der Schimmel von selbst hinweg. Ich dagegen sah in meiner kranken Stimmung den Schaden des Unechten zehnmal größer, als er war, und schwieg dennoch, anstatt den falschen Schwätzern auf die Füße zu treten; damit verschwieg ich auch manches, was ich mit wirklichem Nutzen hätte sagen können. Ich fühlte, daß das kein Leben hieß und so nicht fortgehen könne, und begann darüber zu brüten, wie aus dieser neuen Gefangenschaft des Geistes herauszukommen sei. Zuweilen regte sich, und immer vernehmlicher, der Wunsch, gar nicht mehr dazusein.

Eines Tages hatte ich mehrere Stunden auf den Straßen meines Verwaltungsbezirkes zugebracht, um in Begleitung des Baumeisters den Zustand derselben zu untersuchen. Nach verrichtetem Geschäfte trennte ich mich von dem Manne, da ich das Verlangen spürte, noch einen Gang in Einsamkeit zu machen. So gelangte ich in ein enges abgeschiedenes Tal zwischen zwei grünen Berglehnen, wo es so still war, daß man die Luft in entfernten Baumwipfeln konnte säuseln hören. Auf einmal erkannte ich das Tal als zu der Heimatgegend gehörig, obgleich[841] es so schlicht von Gestaltung war, daß es nirgends eine eigentümliche Form darbot, und kein menschliches Gebäude zeigte sich dem Auge.

Ungefähr in der Mitte des Weges, der das Tälchen durchschnitt, warf ich mich an eine kleine begrünte Erdwelle und überließ mich der schmerzlichen Erinnerung an alles, was ich schon gehofft und verloren, geirrt und verfehlt hatte. Auch zog ich Dorotheens grünen Zettel einmal wieder hervor, der noch immer zwischen einer Falte meiner Schreibtafel steckte. »Hoffnung zeigt sich immerdar treugesinnten Herzen gütig!« las ich und wunderte mich, daß ich das falsche Wechselchen noch bei mir trug. Da eben ein schwacher Luftzug dicht über der sommerwarmen Erde hinwallte, ließ ich es fahren, und es flatterte gemächlich über Gras und Heideblumen weg, ohne daß ich ihm weiter nachblickte.

Am besten wäre es, dachte ich, du lägest unter die ser sanften Erdbrust und wüßtest von nichts! Still und lieblich wäre es hier zu ruhen!

Nach diesem mir nicht mehr neuen Seufzer ließ ich die Augen von ungefähr an der gegenüberliegenden Berghalde schweifen, an deren halber Höhe ein Felsband von grauer Nagelfluhe zutage trat. Ebenso von ungefähr sah ich eine leichte Gestalt von der gleichen grauen Farbe längs dem Felsbande hingleiten oder schweben, und da die Halde von der Abendsonne beleuchtet war, so sah man gleichzeitig auch den Schatten der Gestalt an der Wand mitgleiten. Ich wußte, daß ein schmaler Pfad dort das Felsgesimse entlanglief, und verfolgte mit den Augen die Erscheinung, die sich mit einem sichtlichen Rhythmus bewegte, der mich an ein irgendwo schon Gesehenes erinnerte. Als die Gestalt, die unverkennbar eine weibliche war, das Ende der Felswand erreicht hatte, wandte sie sich und kehrte denselben Weg wieder zurück; es sah aus, als ob der Geist des Berges aus dem Gestein herausgetreten wäre, um im Abendscheine auf und ab zu wandeln.[842]

Froh, meine schweren Gedanken ein wenig zu verscheuchen, erhob ich mich, ging über den Weg und drang durch das Gehölz empor, das den Fuß der jenseitigen Berglehne bekleidete bis unterhalb der Nagelfluhe, an welcher der Pfad hinführte. In wenigen Minuten hatte ich diesen erreicht. Man blickte dort aus dem Tale hinaus und sah in der Ferne einerseits die Ortschaft im Abendlichte schimmern, wo mein Amtssitz lag. Dieser Aussicht zugewendet sah ich die Gestalt an jenem Ende des Felsbandes stehen und hinüberschauen. Dann kehrte sie sich abermals und kam den Weg zurück, gerade mir entgegen. Kaum war sie mir etwas näher, so erkannte ich die Judith, von der ich seit zehn Jahren nicht ein Wort vernommen, trotz der fremdartigen Tracht, in die sie gekleidet war. Statt der halb ländlichen Tracht, in der ich sie zuletzt gesehen, trug sie jetzt ein Damenkleid von leichtem grauem Stoffe und einen grauen Schleier um Hut und Hals gewickelt, alles aber so ungezwungen, ja bequem, daß man sah, ihre ungebrochenen Bewegungen hatten sich in einem reichlichern und breitern Faltenwurfe von selbst Raum verschafft, ohne daß sie im mindesten schlotterig oder auch eckig ausgesehen hätte. In jenem Augenblicke stellte ich natürlich derartige Beobachtungen nicht an; sie erklären nur den Eindruck, welchen die unverhoffte Erscheinung auf mich hervorbrachte.

An dem Gesichte hatten die zehn Jahre keine andere Veränderung bewirkt, als daß es selbstbewußter geworden und durch einen sibyllenhaften Anhauch eher veredelt als entstellt war. Erfahrung und Menschenkenntnis lagerten um Stirn und Lippen, und doch leuchtete aus den Augen noch immer die Treuherzigkeit eines Naturkindes.

So sah ich sie, die Augen erstaunt auf sie gerichtet, mir nahe kommen und die Schritte verlangsamen, als sie meiner ansichtig wurde. Mein Anblick mußte sich mehr verändert haben als der ihre; denn sie schien unschlüssig, ging jetzt etwas rascher und hielt doch wieder an sich, im Begriff, an mir vorüberzugehen.[843] Dadurch wäre ich beinah auch unsicher geworden, und erst als ich ganz dicht vor ihr stand auf dem schmalen Pfade, konnte ich nicht mehr irren und rief: »Judith!«

Aber gleichzeitig überflog eine unverstellte und doch unbeschreiblich milde Freude ihr schönes Gesicht; meine Hand lag in ihrer warmen festen Hand, und nach alter Volkesweise öffnete sie dieselbe nicht so bald.

»Sind Sie es?« sagte sie, ohne meinen Namen zu nennen, und ich wagte auch nicht, den ihrigen zu wiederholen, da ich noch weniger wußte, wie ich sie eigentlich nennen sollte; denn es war durchaus nicht wahrscheinlich, daß eine solche Person allein geblieben sei. Ich fragte daher unbeholfen nur, wo sie herkomme?

»Aus Amerika!« erwiderte sie; »seit vierzehn Tagen bin ich hier!«

»Wo hier? In unserm Dorf?«

»Wo anders denn? Ich wohne im Wirtshaus, da ich sonst niemanden mehr habe!«

»Sind Sie allein da?«

»Gewiß; wer soll bei mir sein?«

Ohne daß ich irgendwie weiterdachte, machte mich diese Antwort glücklich; Jugendglück, Heimat, Zufriedenheit, alles schien mir seltsamerweise mit Judith zurückgekehrt oder vielmehr wie aus dem Berge herausgewachsen zu sein. Indessen waren wir ohne Plan auf dem Pfade weitergegangen, bald dicht aneinandergedrängt, bald eins hinter dem andern, wie es der Raum erlaubte.

»Wissen Sie, wo ich Sie das letzte Mal gesehen habe?« sagte sie jetzt, indem sie sich nach mir zurückwandte; »als ich auf einem Wagen aus dem Lande fuhr und sie als Soldat auf dem Felde standen in einer kleinen Reihe von Leuten. Da drehtet ihr euch alle, wie an einer Schnur gezogen, plötzlich um, und ich dachte Den bekommst du nie mehr zu sehen!«

Ein Weilchen gingen wir schweigend; dann fragte ich, wo sie[844] denn hingehen wolle und ob ich sie eine Strecke begleiten dürfe?

»Ich habe nur einen Spaziergang gemacht«, sagte sie, »und denke, ich muß jetzt wieder nach Haus. Würde es Ihnen zu weit sein, mit mir bis ins Dorf zu gehen?«

»Ich komme gern mit Ihnen und will in Ihrem Wirtshause zu Nacht essen«, antwortete ich; »nachher lasse ich mich in des Wirts kleinem Fuhrwerk heimführen; denn von dort sind es drei gute Wegstunden.«

»Oh, das ist schön von Ihnen! Ich haue doch heut früh schon eine Ahnung, daß mir etwas Gutes geschehen würde, und nun ist der Heinrich Lee bei mir, der Herr Vetter und Oberamtmann!«

Wir fanden bald einen breitern Weg und wanderten in traulichem Geplauder nach dem Dorfe; aber noch eh wir dasselbe erreichten, hatten wir uns unbewußt zu duzen angefangen, was wir als Blutsverwandte auch füglich tun durften. Das erste Haus, an dem wir vorübergingen, war das meines verstorbenen Oheimes; aber es waren fremde Leute darin, seine Kinderwaren zerstoben. Kleine fremde Kinder liefen uns nach und riefen: »Die Amerikanerin!« Einige boten ihr ehrfürchtig die Hand, und sie schenkte ihnen kleine Münzen. Als wir bei ihrem Hause vorbeikamen, standen wir einen Augenblick still. Der jetzige Besitzer hatte es umgebaut, aber der schöne Baumgarten, wo sie einst Äpfel pflückte, stand unverändert. Sie warf nur einen halben Blick auf mich, schlug ihn dann nieder und errötete sanft, indem sie eilig weiterschritt. Da sah ich, daß dieses Weib, das die Meere durchschifft, sich in einer neuen werdenden Welt herumgetrieben und zehn Jahre älter geworden, zarter und besser war als in der Jugend und in der stillen Heimat.

Das nennt man Rasse, würden rohe Sportsleute sagen! dachte ich bei dem lieblichen Anblick.

Im Wirtshause angekommen, wunderte ich mich, mit welcher Umsicht und geräuschlosen Sorgfalt, mit wenig Worten,[845] sie eine gute Bewirtung anzuordnen wußte und so aufmerksam für mich sorgte wie ein Hausmütterchen. Das ließ mich vermuten, daß sie in Amerika ihre Zeit in Städten und guten Häusern zugebracht habe; allein die Erzählungen und Schilderungen ihres Schicksals, die sie während des Nachtessens mit anmutiger Laune mir sowohl als den mit zuhorchenden Wirtsleuten zum besten gab, deuteten im Gegenteil darauf hin, daß sie im Kampfe mit der Not der Menschen, und indem sie ihre Auswanderungsgenossen geradezu erziehen und zusammenhalten mußte, sich selbst notgedrungen veredelt und höhergehoben hatte.

Als sie nämlich mit ihren Landsleuten an Ort und Stelle der Ansiedlung gelangt und andere dazugestoßen waren, zeigte sich fast die ganze Gesellschaft als nicht ausdauernd und ungeschickt bei Widerwärtigkeiten, so wie sich auch die übrigen Eigenschaften, welche die Auswanderung veranlaßt, nicht sogleich verloren. Judith, als die meisten Mittel besitzend, hatte den größten Teil des Bodens angekauft; sie ließ jedoch ihr Land von den andern benutzen und begnügte sich, eine Art Handelskontor für die verschiedenen Bedürfnisse der kleinen Kolonie zu führen. Wie sie aber sah, daß die Genossen sie am Schaden ließen und sie verarmen würde, änderte sie das Verfahren. Sie zog ihr Land wieder an sich, ließ es um den Tagelohn von denen bearbeiten, die für eigene Rechnung zu träg dazu gewesen, und so brachte sie alle miteinander dazu, sich zu rühren. Sie setzte den Weibern die Köpfe zurecht, pflegte die kranken Kinder und erzog die gesunden, kurz, der Selbsterhaltungstrieb war mit einer großen Opferfähigkeit so glücklich in ihr gemischt, daß sie die Leute und mit ihnen sich selbst so lange über Wasser hielt, bis ein bedeutender Verbindungsweg in die Nähe der Ansiedlung kam und mit demselben eine wachsende Zahl von kräftigeren Elementen, die schon geschult waren, so daß zusehends die Wendung zum Bessern für alle eintrat. Während der ganzen Zeit aber hatte sie die Bewerbungen um ihre Person abzuwehren,[846] was sie mehr im Scherze andeutete als ernsthaft erwähnte; zeitweise, wenn gefährliche Abenteurer sich herbeimachten und die Sicherheit bedrohten, hielt sie sich sogar Waffen und verließ sich nur auf sich selber.

Als aber das Kalb durch den Bach gezogen, das Gedeihen begründet und die Ansiedlung mit dem Namen irgendeiner berühmten Stadt der Alten Welt vor Christi Geburt versehen war, zog sie sich zurück und überließ sich einer ruhigeren Lebensart; denn sie war weder eine gewohnheitsmäßige Pädagogin noch eine vorsätzliche Tatverrichterin. Dagegen vervielfachte sie durch den Verkauf ihres Landes ihr ursprüngliches Vermögen und beschaute sich zuweilen während einiger Wochen das Leben in der Hauptstadt des Staates oder anderen größeren Städten, oder sie fuhr auf den breiten Flüssen, wenn sich Gesellschaft fand, landeinwärts, bis sie die wilden Indianer zu sehen bekam.

Alles das erzählte sie bruchstückweise und ungezwungen mit solcher Kurzweiligkeit, daß wir nicht müde wurden zuzuhören, zumal jedes Wort den Stempel der Wahrheit an sich trug. Inzwischen war die Zeit wie ein Augenblick für mich verstrichen, da ich seit Jahren nicht so sorglos und glücklich an einem Tische gesessen, und der Einspänner des Wirtes, der mich nach Hause bringen sollte, stand bereit, weil ich für die Morgenfrühe mehrere Amtsgeschäfte anberaumt hatte.

Ich dankte der Judith beim Abschiede für die Gastfreundschaft und lud sie ein, sich bald bei mir schadlos zu halten, wo wir zwar auch im Wirtshause essen müßten, weil ich keine Haushaltung führe.

»Ich werde schon in den nächsten Tagen angefahren kommen«, sagte sie, »in diesem gleichen Triumphwagen, und mich bezahlt machen!«

Als ich schon im Gefährte saß, drückte sie mir in der Dunkelheit schweigend die Hand und blieb lautlos stehen, bis ich weggefahren war.[847]

Das neue Glück, das mich erfüllte, trabte sich jedoch schon am andern Morgen, als ich bedachte, daß ich ihr nun das Geheimnis meines Gewissens und das Schicksal der Mutter enthüllen müsse. Denn wenn es jetzt ein Urteil gab, das ich fürchtete, so war es dasjenige dieser einfachen und wundersamen Frauenerscheinung, und doch war mir weder Freundschaft noch Liebe zwischen ihr und mir denkbar, wenn sie nicht alles wußte.

Ich erwartete sie deshalb mit ebensoviel Furcht als Ungeduld, bis sie am zweiten Vormittage kam. Eine gewisse Niedergeschlagenheit war in die Freude des Wiedersehens gemischt, und zwar bei ihr wie bei mir. Nachdem sie sich in meiner Wohnung ein wenig umgeschaut, sagte sie, Hut und Überwurf weglegend:

»Es ist doch recht hübsch in diesem großen Amtsdorfe, fast wie in einer Stadt. Ich hätte Lust, hieher zu ziehen und mehr in deiner Nähe zu sein, wenn nur –«

Sie hielt verschüchtert inne, gleich einem jungen Mädchen, fuhr dann aber :

»Sieh, Heinrich, schon mehrmals bin ich seit meiner Ankunft auf dem Bergpfade gewesen, wo du mich getroffen hast, um hier herüberzuschauen, da ich mir nicht zu kommen getraute!«

»Nicht getraut! Eine so tapfere Person!«

»Sieh, das ging so zu: Du liegst mir einmal im Blut, und ich habe dich nie vergessen, da jeder Mensch etwas haben muß, woran er ernstlich hängt! Nun erschien vor einiger Zeit in unserer Kolonie ein neuer Landsmann aus dem Dorfe, der sich jedoch auch schon einige Jahre drüben herumgetrieben hat. Da von den heimatlichen Dingen gesprochen wurde, frug ich beiläufig nach dir und ob man im Dorfe nichts von dir wisse, hoffte aber nicht, etwas zu erfahren, woran ich längst gewöhnt war. Der Mann besann sich ein Weilchen und sagt: ›Ja, wartet, wie ist denn das? Ich habe davon gehört‹, und nun erzählte er.«[848]

»Was erzählte er?« fragte ich traurig.

»Er habe gehört, daß du verarmt in der Fremde herumgezogen seist, die Mutter in Schulden gebracht und darüber habest sterben lassen und daß du dann in elendem Zustande heimgekehrt seiest und als ein Schreiberlein irgendwo dein Leben fristest. Als ich so dein Unglück vernahm, packte ich unverzüglich auf, um zu dir zu kommen und bei dir zu sein!«

»Judith, das hast du getan?« rief ich.

»Was meinst du denn? Sollte ich, die dich als grünen Knaben einst so herzlich geliebt und gekost hat, dich nun in Not und Kummer wissen, ohne zu dir zu kommen? – Aber da ich nun kam, da war alles nicht wahr! Zwar die Mutter ist gestorben, du aber bist in guten Zuständen aus der Fremde gekehrt und stehst jetzt beim Regierungswesen und in Ehr und Ansehen, wie ich wohl merke, obgleich man sagt, du seiest etwas stolz und unfreundlich! Dies letztere ist nun freilich auch nicht wahr!«

»Und du bist also meinetwegen aus Amerika aufgebrochen, obgleich du mich für schlecht gehalten hast?«

»Wer sagt das? Ich habe dich trotzdem nicht für schlecht, nur für unglücklich gehalten!«

»Das Schlimmste an dem Unglück ist aber dennoch wahr, meine Verschuldung! Ich habe wirklich meine Mutter in Kummer und Sorgen gebracht und bin eben recht gekommen, der daran Sterbenden die Augen zuzudrücken!«

»Wie ist das denn zugegangen? Erzähle mir alles, denke aber nicht, daß ich mich von dir werde abwendig machen lassen!«

»Dann hat dein Urteil keinen Wert, wenn es nur durch deine gütige Zuneigung bedingt wird!«

»Eben diese Neigung ist Urteils genug, und du mußt es anerkennen! Doch erzähle nur!«

Ich tat es in ausführlicher Weise, so ausführlich, daß ich gegen das Ende hin die Aufmerksamkeit auf meine Rede verlor und zerstreut wurde; denn ich spürte inzwischen den alten[849] Druck von der Seele weichen und wußte, daß ich frei und gesund war. Plötzlich unterbrach ich mich und sagte:

»Es nützt nichts, länger zu schwatzen! Du hast mich erlöst, Judith, und dir danke ich's, wenn ich wieder munter bin; dafür bin ich dein, solang ich lebe!«

»Das läßt sich hören!« erwiderte sie mit glänzenden Augen und mit einem Ausdrucke von Zufriedenheit in ihren schönen Gesichtszügen, daß der Anblick mich in der Erinnerung immer wieder irremachte, wenn ich im Laufe der Jahre zu erwägen hatte, wie mit der Schönheit der Dinge doch nicht alles getan und der einseitige Dienst derselben eine Heuchelei sei wie jede andere. Ja, neben der Erinnerung an Dortchens Angesicht am Tische des Kaplans leuchtet mir Judiths Anblick fort wie ein Doppelstern. Beide Sterne sind gleich schön und doch nicht beide gleich in ihrem wahren Wesen.

»Nun habe ich Hunger und möchte essen, wenn du was hast!« sagte Judith; »aber richte dich ein, den übrigen Tag mit mir im Freien zuzubringen; unter Gottes freiem Himmel wollen wir unsere Sachen zu Ende führen!«

Wir stellten fest, daß ich nach Tisch mit ihr heimwärts fahre, daß wir aber am Eingange des Tales, wo wir uns zuerst getroffen, den Wagen weiterschicken und den Berg mit der Nagelfluhe besteigen wollten.

Fröhlich und zufrieden aßen wir zusammen im Herrenstübchen des Gasthauses zum goldnen Stern. In einem der Fenster leuchtete eine zweihundertjährige gemalte Scheibe mit den Wappen eines Ehepaares, das nun schon lange zu Staub geworden. Über den beiden Wappen stand die Inschrift: »Andreas Mayer, Vogt und Wirt zum gülden Stern, und Emerentia Juditha Hollenbergerin sind ehlich verbunden am 1. Mai 1650.« Der Hintergrund, auf welchem die zwei Wappen standen, zeigte ein Gartenland mit einer Gesellschaft zechender Engelsfigürchen zwischen Rosenbüschen. Ein geschmücktes Paar, die Handschuhe in den Händen, sah den kleinen Trinkgesellen wohlgefällig[850] zu. Zuunterst aber quer über die Scheibe stand auf einem breiten Bande der Spruch:


Hoffnung hintergehet zwar,

Aber nur, was wankelmütig;

Hoffnung zeigt sich immerdar

Treugesinnten Herzen gütig!

Hoffnung senket ihren Grund

In das Herz, nicht in den Mund!


Die gemeinsame Quelle, aus welcher beide Schreiber, die so weit auseinander lebten, der alte Glasmaler und das Fräulein im Grafenschloß, geschöpft hatten, mußte somit ein sehr altes Buch sein.

Mich aber berührte diese Aufdringlichkeit des Zufalls, die aus der ganzen Schilderei leuchtete, eher ängstlich und beklemmend als freudig; denn dieser Machthaber schien sich förmlich zu meinem Führer aufwerfen zu wollen, und der Spruch konnte eine neue Täuschung verkünden. Judith las denselben, ohne auf das Bildwerk zu achten, und sagte lächelnd: »Welch ein schöner Vers und gewißlich wahr; man muß ihn nur richtig verstehen!«

Wir begaben uns also auf den Weg, schickten den Wagen am Fuße jenes mäßigen Berges weg und wanderten gemächlich hinauf, und zwar auf die Scheitelhöhe. Dort standen, weit in das Land ragend, zwei mächtige uralte Eichbäume, unter welchen eine Bank und ein steinerner, ganz bemooster Tisch sich befanden. Vor der christlichen Zeit sollte hier eine Kultusstätte, später eine Dingstätte gewesen sein und von letzterer Bestimmung der Tisch herrühren.

Auf der Bank im Schatten der mächtig ausgreifenden Aste sitzend, schauten wir Hand in Hand in die bläuliche Ferne der Rundsicht. Judith hatte ihren Hut und Sonnenschirm auf den Tisch gelegt. Nach einer Weile, als sie auch den Tisch betrachtet und sich die Bedeutung desselben hatte erklären lassen, sagte sie mit bedächtlichen und bewegten Worten:[851]

»Wie nennt man's denn in den Ländern, wo es Könige gibt, wenn diese gekrönt werden und an den Altären stehen?«

Ich wußte nicht gleich, was sie meinte, und sann nach. Da ich sie aber unverwandt auf den alten Steintisch schauen sah und sie sogar Hut und Schirm wegnahm, wie um die Sache deutlicher zu machen, fiel es mir ein, und ich sagte:

»Es heißt, sie nehmen die Krone von Gottes Tisch!«

Da sah sie mich zärtlich an und flüsterte:

»Ja, so heißt es! Sieh, und nun könnten wir hier auch das Glück von Gottes Tisch nehmen, was die Welt das Glück nennt, und uns zu Mann und Frau machen! Aber wir wollen uns nicht krönen! Wir wollen jener Krone entsagen und dafür des Glückes um so sicherer bleiben, das uns jetzt, in diesem Augenblicke, beseligt; denn ich fühle, daß du jetzt auch glücklich und zufrieden bist!«

Ich schwieg erschüttert still. Doch fuhr sie fort:

»Schau, ich habe es mir schon auf dem Meere und während eines Sturmes überlegt, als die Blitze um die Masten zuckten, die Wellen über Deck schlugen und ich in der Todesangst deinen Namen ausrief, und die letzten Nächte wieder hab ich es hin und her gewendet und mir gelobt Nein, du willst sein Leben nicht zu deinem Glücke mißbrauchen! Er soll frei sein und sich durch die Lebenstrübheit nicht noch mehr abziehen lassen, als es schon geschehen ist!«

Ich schüttelte aber den Kopf und sagte betroffen: »Ich will nicht unbescheiden sein, Judith, allein ich habe es mir doch anders gedacht. Wenn du mir in der Tat gut bist, willst du nicht lieber bei mir leben, als immer so einsam sein, so allein stehen in der Welt?«

»Wo du bist, da werde ich auch sein, solange du allein bleibst; du bist noch jung, Heinrich, und kennst dich selber nicht. Aber abgesehen hievon, glaube mir, solange wir so sind wie jetzt, in dieser Stunde, wissen wir, was wir haben, und sind glücklich! Was wollen wir denn mehr?«[852]

Ich begann zu fühlen und zu verstehen, was sie bewegte; sie mochte zuviel von der Welt gesehen und geschmeckt haben, um einem vollen und ganzen Glücke zu vertrauen. Ich sah ihr ins Gesicht und strich ihr weiches braunes Haar zurück, indem ich rief:

»Ich habe ja gesagt, ich sei dein, und will es auf jede Art sein, wie du es willst!«

Sie schloß mich heftig in die Arme und an ihre gute Brust; auch küßte sie mich zärtlich auf den Mund und sagte leis: »Nun ist der Bund besiegelt! Aber für dich nur auf Zusehen hin; du bist und sollst sein ein freier Mann in jedem Sinne!«

Und so ist es auch zwischen uns geblieben. Noch zwanzig Jahre hat sie gelebt; ich habe mich gerührt und nicht mehr geschwiegen, auch nach Kräften dies oder jenes verrichtet, und bei allem ist sie mir nahe gewesen. Wenn ich den Wohnort verändern mußte, so ist sie mir das eine Mal gefolgt, das andere nicht, aber sooft wir wollten, haben wir uns gesehen. Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte; aber jedesmal, wo wir uns sahen, ob täglich oder nur jährlich, war es uns ein Fest. Und wenn ich in Zweifel und Zwiespalt geriet, brauchte ich nur ihre Stimme zu hören, um die Stimme der Natur selbst zu vernehmen.

Sie starb, als eine verderbliche Kinderkrankheit herrschte und sie sich mit ihren hilfsbereiten Händen in eine ratlose Behausung armer Leute stürzte, die mit kranken Kindern angefüllt und von den Ärzten abgesperrt war. Sonst hätte sie leicht noch zwanzig Jahre leben können und wäre ebensolang mein Trost und meine Freude gewesen.

Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wiedererhalten und den andern Teil dazugefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 839-853.
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