Siebentes Kapitel

Weiterträumen

[698] In einem großen Walde fand ich mich wieder und ging auf einem wunderlichen schmalen Brettersteige, welcher sich hoch durch die liste und Baumkronen wand, eine Art endlosen hängenden Brückenbaues, indessen der bequeme Boden unten nach richtiger Traumesart unbenutzt blieb. Aber es war schön, hin abzuschauen auf den Waldgrund, da er ganz aus grünem Moose bestand, das in tiefer Dunkelheit lag. Auf dem Moose wuchsen viele einzelne sternförmige Blumen auf schwankem Stengel, und sie wendeten sich immer nach dem oben gehenden Beschauer; bei jeder Blume stand ein kleines Erdmännchen oder Moosweiblein, das mittelst eines in goldenem Laternchen strahlenden Karfunkels die Blume beleuchtete, daß sie aus der Tiefe heraufschimmerte wie ein blauer oder roter Stern, und indem sich diese Blumengestirne, welche oft in schönen Bildern zusammenstanden, langsamer er oder schneller drehten, gingen die winzigen Leutchen mit ihren Laternchen um sie herum und lenkten sorgfältig den Lichtstrahl auf die Kelche. So sah sich das kreisende Leuchten in der Tiefe von dem hohen Balken[698] oder Bretterwege wie ein unterirdischer Sternhimmel an, nur daß er grün war und die Sterne in allen Farben strahlten.

Entzückt ging ich auf der Hängebrücke weiter und schlug mich tapfer durch die Buchen- und Eichenkronen, da ich begriff, ein so zierlicher Grund und Boden sei nicht dazu da, darauf mit Füßen zu wandeln. Manchmal kam ich in eine Föhrengruppe hinein, welche etwas lichter war; das rote, von der Sonne durchglühte, stark duftende Holzwerk der Fichtenkronen bot einen fabelhaften Anblick und Aufenthalt, weil es wie künstlich bearbeitet, gezimmert und mit seltsamem Bildwerk verziert schien und doch ein natürliches Ästewesen war. Manchmal führte der Steg auch ganz über die Bäume hinweg unter den offenen Himmel und Sonnenschein, und ich stellte mich auf das schwanke Geländer, um zu sehen, wo es eigentlich hinausginge; allein nichts war zu erblicken als ein endloses Meer von grünen Baumwipfeln, so weit das Auge reichte, auf dem ein heißer Sommertag flimmerte und Tausende von wilden Tauben, Hähern, Mandelkrähen, Spechten und Weihen herumschwärmten, und das Wunderbare war nur, daß man auch die allerfernsten Vögel deutlich erkannte und ihre Gestalt und Farben unterscheiden konnte. Nachdem ich mich sattsam umgeschaut, blickte ich wieder in die dunkle Tiefe, wo ich jetzt eine Felsschlucht entdeckte, die für sich allein von der Sonne erhellt war. Auf dem tiefsten Grunde lag eine kleine Wiese an einem klaren Bache; mitten auf derselben saß auf ihrem kleinen Strohsessel meine Mutter in einem braunen Einsiedlerkleide und mit eisgrauen Haaren. Sie war alt und gebeugt, und ich konnte ungeachtet der fernen Tiefe jeden ihrer Züge genau erkennen. Mit einer grünen Rute hütete sie eine kleine Herde Silberfasanen, und wenn einer weglaufen wollte, schlug sie leise auf seine Flügel, worauf einige glänzende Federn emporschwebten und in der Sonne spielten. Am Bächlein aber stand ihr Spinnrad, das rings mit Schaufeln versehen und eigentlich ein kleines Mühlrad war und sich blitzschnell drehte. Sie spann nur mit[699] der einen Hand den glänzenden Faden, der sich nicht auf die Spule wickelte, sondern kreuz und quer an dem Abhange herumzog und sich da sofort zu großen Flächen blendender Leinwand gestaltete. Diese stieg höher und höher heran; plötzlich fühlte ich ein schweres Gewicht auf der Schulter und merkte, daß ich den vergessenen Mantelsack trug, der von den feinen Hemden ganz geschwollen war. Jetzt sah ich freilich, woher dieselben kamen. Während ich mich mühselig damit schleppte, entdeckte ich, daß die Fasanen alles schöne Bettstücke waren, welche die Mutter eifrig sonnte und ausklopfte. Dann raffte sie dieselben zusammen und trug sie geschäftig herum und eines ums andere in den Berg hinein. Wenn sie wieder herauskam, so schaute sie, mit der Hand über den Augen, sich um und sang leise, was ich aber deutlich vernahm:


»Mein Sohn, mein Sohn,

O schöner Ton!

Wann kommt er bald,

Geht durch den Wald?«


Da ersah sie mich in der Höhe wie in der Luft schwebend und sehnlich zu ihr hinabblickend. Sie stieß einen lauten Freudenruf aus und huschte wie ein Geist davon über Fels und Stein, ohne zu gehen, daß sie mir immer ferner zu entschwinden drohte, während ich vergeblich rufend nacheilte und der Steg sich bog und krachte, die Baumkronen schwankten und rauschten.

Da war der Wald aus, und ich sah mich auf dem Berge stehen, welcher der Heimatstadt gegenüberliegt; aber welchen Anblick bot diese! Der Fluß war zehnmal breiter als sonst und glänzte wie ein Spiegel; die Häuser waren alle so groß wie sonst die Münsterkirche, von der fabelhaftesten Bauart, und glänzten im Sonnenschein, die Fenster mit einer Fülle von Blumen geziert, die schwer über die mit Bildwerken bedeckten Mauern herabhingen. Die Linden stiegen unabsehbar in den[700] dunkelblauen durchsichtigen Himmel hinein, der ein einziger Edelstein schien, und die riesigen Lindenwipfel wehten dran hin und her, als ob sie ihn noch blanker fegen wollten, und zuletzt wuchsen sie in die durchsichtige blaue Kristallmasse hinein.

Zwischen den grünen Laubgebirgen der Linden stiegen die Münstertürme empor, während das ungeheure Steinschiff unter Hügeln von Millionen herzförmiger Lindenblätter lag und nur da oder dort eine purpurrote oder blaue Glasscheibe hervorfunkelte, von einem verlorenen Sonnenstrahl durchschossen. Die goldenen Kronen aber, welche die Turmknöpfe bildeten, schimmerten in der Himmelshöhe und waren voll junger Mädchen; die streckten ihre Lockenköpfe rings durch den gotischen Zierat in die Welt hinaus. Obgleich ich jedes Lindenblatt scharf umrissen erkannte, vermochte ich doch nicht zu sehen, wer alle diese Mädchen waren, und ich beeilte mich hinüberzukommen, da es mich sehr wundernahm, wer alle diese Mitbürgerinnen sein möchten.

Zur rechten Zeit sah ich den Goldfuchs neben mir stehen, legte ihm den Mantelsack auf und begann den jähen Staffelweg hinunterzureiten, der zur Brücke führte. Jede Staffel war aber ein geschliffener Bergkristall, und darin eingeschlossen lag ein spannelanges Weibchen gleichsam schlafend, von unbeschreiblichem Ebenmaß und Schönheit der Gliederchen. Während der Goldfuchs den halsbrechenden Weg hinunterstieg und jeden Augenblick seinen Reiter in die Tiefe zu stürzen drohte, bog ich mich links und rechts vom Sattel und suchte mit sehnsuchtsvollen Blicken in den Kern der Kristallstufen zu dringen.

»Tausend noch einmal!« rief ich lüstern vor mich hin, »was mögen das nur für allerliebste Wesen sein in dieser verwünschten Treppe?«

Ohne daß ich mich im geringsten wunderte, fing das Pferd plötzlich an zu sprechen, indem es den Kopf zurückwandte und antwortete: »Was wird's sein? Das sind nur die guten[701] Dinge und Ideen, welche der Boden der Heimat in sich schließt und die derjenige herausklopft, der im Lande bleibt und sich redlich nährt!«

»Zum Teufel!« rief ich, »ich werde gleich morgen hier herausgehen und mir einige Stufen aufschlagen!«

Und ich konnte meine Blicke nicht wegwenden von der langen Treppe, die sich schon glänzend hinter mir den Berg hinan schmiegte. Das Pferd aber sagte, das sei nur eine leichte Anschürfung, der ganze Boden stecke voll von solchen Sachen. Wir langten jetzt unten bei der Brücke an. Das war aber nicht mehr die alte Holzbrücke, sondern ein Marmorpalast, der in zwei Stockwerken eine endlose Säulenhalle bildete und so als eine niegesehene Prachtbrücke über den Fluß führte. Was sich doch alles verändert und vorwärtsschreitet, wenn man nur einige Jahre weg ist! dachte ich, als ich gemächlich und neugierig in die weite Brückenhalle ritt. Während das Gebäude von außen nur in weißem, rötlichem und schwarzem Marmor glänzte, waren die Wände des Innern mit zahllosen Malereien bedeckt, welche die ganze Geschichte und alle Tätigkeiten des Landes darstellten. Das ganze abgeschiedene Volk war sozusagen bis auf den letzten Mann, der soeben gegangen, an die Wand gemalt und schien mit dem lebendigen, das auf der Brücke verkehrte, eines zu sein; ja manche der gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten unter den Lebendigen mit, während von diesen manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden. Beide Parteien bestanden aus Helden und Weibern, Pfaffen und Laien, Herren und Bauern, Ehrenleuten und Lumpenhunden; der Eingang und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht, und indem der Zug über dieselbe beständig im Gange blieb und der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand, schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit und Zukunft nur ein Ding zu sein.

»Nun möcht ich wohl wissen, was das für eine muntere Sache[702] ist!« summte ich in mich hinein, und das Pferd antwortete auf der Stelle:

»Dies nennt man die Identität der Nation!«

»Ei, du bist ein sehr gelehrter Gaul!« rief ich, »der Hafer muß dich wirklich stechen! Woher nimmst du derartige Brocken?«

»Erinnere dich«, sagte der Goldfuchs, »auf wem du reitest! Bin ich nicht aus Gold entstanden? Gold aber ist Reichtum, und Reichtum ist Einsicht.«

Bei diesen Worten merkte ich sogleich, daß mein Mantelsack statt mit Gewand jetzt gänzlich mit jenen goldenen Münzen angefüllt war. Statt zu grübeln, woher sie so unvermutet wiedergekommen, fühlte ich mich höchst zufrieden in ihrem Besitze, und obschon ich dem weisen Gaule nicht mit gutem Gewissen recht geben konnte, daß Reichtum Einsicht sei, fand ich mich doch unvermutet so einsichtsvoll, daß ich wenigstens nichts erwiderte und gemütlich weiterritt.

»Nun sage mir, du weiser Salomo!« begann ich nach einer Weile von neuem, »heißt eigentlich die Brücke die Identität oder die Leute, so darauf sind? Welches von beiden nennst du so?«

»Beide zusammen sind die Identität, sonst spräche man ja nicht davon!«

»Der Nation?«

»Der Nation, versteht sich!«

»Also ist die Brücke auch eine Nation?«

»Ei, seit wann«, rief das Pferd unwillig, »kann denn ein Vehikel, so schön es ist, eine Nation sein? Nur Leute können eine sein, folglich sind es die Leute hier!«

»So! und doch sagtest du soeben, die Nation und die Brücke machen zusammen eine Identität aus!«

»Das sagt ich auch und bleibe dabei!«

»Nun also?«

»Wisse«, antwortete der Gaul bedächtig, indem er sich auf allen vieren spreizte, »wisse, wer diese heikle Frage zu beantworten und den Widerspruch zu lösen versteht, der ist ein[703] Meister und arbeitet an der Identität selber mit. Wenn ich die richtige Antwort, die mir wohl so im Munde herumläuft, rund zu formulieren verstände, so wäre ich nicht ein Pferd, sondern längst hier an die Wand gemalt. Übrigens erinnere dich, daß ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser ganzes Gespräch eine Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirnes ist. Mithin magst du fernere Fragen dir nur selbst beantworten aus der allerersten Hand!«

»Ha! du widerspenstige Bestie!« schrie ich und stieß dem Tiere die Fersen in die Weichen, »um so mehr, du undankbarer Klepper, bist du mir zu Red und Antwort verpflichtet, da ich dich aus meinem so mühselig ergänzten Blute erzeugen und diesen Traum lang speisen und nähren muß!«

»Hat auch was Rechtes auf sich!« sagte das Pferd gelassen. »Dieses ganze Gespräch, überhaupt unsere ganze werte Bekanntschaft ist das Werk und die Dauer von kaum drei Sekunden und kostet dich kaum einen Hauch von deinem geehrten Körperlichen!«

»Wie, drei Sekunden? Ist es nicht wenigstens eine Stunde, seit wir auf dieser endlosen Brücke reiten?«

»Drei Sekunden dauert der Hufschlag des nächtlichen Reiters, der meine Erscheinung in dir hervorgerufen; mit ihm wird sie verschwinden, und du kannst wieder zu Fuß gehen!«

»Um des Himmels willen! So verliere keine weitere Zeit, sonst geht der Augenblick vorüber, eh ich über diese schöne Brücke im reinen bin!«

»Es eilt gar nicht! Alles, was wir für jetzt zu erleben und zu erfahren haben, geht vollkommen in das Maß des wackern Pferdetrittes hinein, und wenn der richtig denkende Psalmist den Herren seinen Gott anschrie: ›Tausend Jahre sind vor dir wie ein Augenblick!‹ so ist diese Hypothese von hinten gelesen eine und dieselbe Wahrheit: Ein Augenblick ist wie tausend Jahre! Wir könnten noch tausendmal mehr sehen und hören während dieses Hufschlages, wenn wir nur das Zeug dazu in[704] uns hätten, lieber Mann! Alles Drängen oder Zögern hilft da nichts, alles hat seine bequemliche Erfüllung, und wir können uns ganz gemächlich Zeit lassen mit unserm Traum, er ist, was er ist, und nicht mehr noch minder!«

Ich hörte nicht länger auf die Reden des Pferdes, weil ich bemerkte, daß ich von allen Seiten mit biederer Achtung begrüßt wurde; denn schon mehr als einer der Vorübergehenden hatte mit eigentümlichem Griffe meinen strotzenden Mantelsack betastet, ungefähr wie die Metzger tun, wenn sie in den Bauernställen oder auf Märkten ein Stück Rindvieh auf seine Fettigkeit prüfen und ihm Kreuz und Lenden bekneifen.

»Das sind ja absonderliche Manieren!« sagte ich endlich; »ich glaubte, es kenne mich kein Mensch hier!«

»Es gilt auch nicht dir«, meinte der Goldfuchs, »sondern deinem Quersack, deiner dicken Goldwurst, die mir das Kreuz drückt!«

»So? also das ist die Lösung und das Geheimnis deiner ganzen Identitätsfrage, das gemünzte Gold? Denn du bist ja aus gleichem Stoffe, ohne daß dich ein einziger betastet!«

»Hm!« machte das Pferd, »das ist nicht so genau zu nehmen. Die Leute haben allerdings ihr Augenmerk darauf gerichtet, ihre Identität, die sie in diesem Falle Unabhängigkeit nennen, zu behaupten und gegen jeglichen Angriff zu verteidigen. Nun wissen sie aber, daß ein kampffähiger guter Soldat wohlgenährt sein und ein Frühstück im Magen haben muß, wenn er sich schlagen soll. Da dies aber nur durch allerhand Gemünztes zu erreichen und zu sichern ist, so betrachten sie jeden, der damit versehen, als einen gerüsteten Verteidiger und Unterstützer der Identität und sehen ihn drum an. Da läuft es denn freilich mit unter, daß sie ihre Privatsachen mit den öffentlichen Dingen für identisch halten, wie man denn in der Übung jeglicher Energie nicht leicht zuviel tun kann, und so gewinnt dieser oder jener das Ansehen eines habsüchtigen Esels. Sei dem, wie ihm wolle, ich rate dir, dein Kapital hier noch ein[705] wenig in Umlauf zu setzen und zu vermehren. Wenn die Meinung der Leute im allgemeinen auch eine irrige ist, so steht es doch jedem frei, sie für sich zu einer Wahrheit und so seine Stellung zu einer angenehmen zu machen.«

Ich griff in den Sack und warf einige Hände voll Goldmünzen in die Höhe, welche sogleich von hundert in der Luft zappelnden Händen aufgefangen und weitergeworfen wurden, nachdem jeder das Gold erst besehen und an seinem eigenen Golde gerieben hatte, wodurch beide Stücke sich verdoppelten. Bald kehrten alle meine Münzen in Gesellschaft von anderm Golde zurück und hingen sich an das Pferd; es regnete förmlich Gold, welches sich klumpenweise an alle seine vier Beine setzte, gleich dem Blumenstaub, der den Bienen Höschen macht, so daß es bald nicht mehr gehen konnte. Es bildeten sich aber noch große Flügel an dem Tiere, und es glich zuletzt einer Riesenbiene und flog wie eine solche über die Köpfe des Volkes weg. Erst jetzt schütteten wir zusammen einen rechten Goldregen nieder, so daß zuletzt ein ungeheures Gesindel von Goldhungrigen hinter uns her war. Alte und Junge, Weiber und Männer purzelten übereinander, das Gold zu raffen. Diebe, die von Wächtern transportiert wurden, stürzten sich samt diesen in den Haufen; Bäckerlehrlinge warfen ihr Brot in das Wasser und füllten ihre Körbe mit Gold; Priester, die zur Kirche gingen, um zu predigen, schürzten ihre Talare wie bohnenpflückende Bäuerinnen die Röcke und schöpften Gold hinein; Magistratspersonen, die vom Rathause kamen, schlichen herbei und schoben verschämt ein paar zur Seite rollende Stücklein in die Tasche; selbst aus einem an die Wand gemalten Gerichte liefen die toten Richter vom Tische, ließen den Angeklagten stehen und stiegen herunter, um hinter mir herzustreichen, und schließlich kam der gemalte Verbrecher auch noch gesprungen, um nach Gold zu schreien.

Ganz geschwollen vom Bewußtsein des Reichtums, schwebte ich endlich aus der Brückenhalle hinaus und schwang mich auf[706] dem goldenen Bienenpferde hochmütig in die Luft, wo ich hoch den Münsterkronen kreiste wie ein Falke, mich bald wählig niederließ, bald wieder aufstieg und das kindische Traumvergnügen des Fliegens und Reitens zugleich in vollen Zügen genoß. Aus den Kronen fingerten hundert weiße Hände nach meinem Golde empor, Augen und Wänglein blühten wie Vergißmeinnicht und Rosen im Sonnenschein. Das Pferd sagte: »Nun wähle, das sind die heiratsfähigen Mägdlein des Landes! Das Beste ist eine artige Frau!« Ich äugelte auch richtig stolz und lüstern auf sie hinunter und gedachte meine Irrfahrten und erlebten Kümmernisse mit einer konvenablen Heirat abzuschließen, als plötzlich eine harte Stimme erscholl, die rief: »Ist denn niemand da, den Landverderber aus der Luft herabzuholen?«

»Ich bin schon da!« antwortete der dicke Wilhelm Tell, der in einer Lindenkrone verborgen saß, die Armbrust auf mich anlegte und mich mit seinem Pfeile herunterschoß. Ein neuer Ikarus, stürzte ich samt dem Goldfuchs prasselnd aufs Kirchendach und rutschte von dort jämmerlich auf die Straße hinab, woran ich erwachte und mich erschüttert fand, wie wenn ich wirklich gefallen wäre. Der Kopf schmerzte mich fieberhaft, während ich das Geträumte zusammenlas. Diese verkehrte Welt, in welcher das im Wachen müßige Gehirn bei nachtschlafender Zeit auf eigene Faust zusammenhängende Märchen und buchgerechte Allegorien, nach irgendwo gelesenen Mustern, mit Schulwörtern und satirischen Beziehungen ausheckte und fortspann, begann mich zu ängstigen wie der Vorbote einer schweren Krankheit; ja, es beschlich mich sogar wie ein Gespenst die Furcht, auf diese Art könnten meine dienstbaren Organe mich, das heißt meinen Verstand, zuletzt ganz vor die Türe setzen und eine tolle Dienstbotenwirtschaft führen.

Als ich der Sache weiter nachdachte, empfand ich die Gefahr, die darin liegt, sich gegen Natur und Gewohnheit mit dem völlig Geistlosen beschäftigen und nähren zu wollen, und doch[707] wußte ich nicht, wie aus dem Banne hinauszukommen wäre. Darüber schlief ich wieder ein, und das Träumen ging neuerdings an; doch verlor sich das unheimliche Allegorienwesen, und das Gesetzlose regierte fort.

Ich trieb jetzt das halbzerbrochene und schwer mit Säcken beladene Pferd eine bergige Straße hinauf nach dem Hause der Mutter; es dauerte eine qualvolle Ewigkeit, bis ich endlich anlangte. Da fiel das Tier zusammen und verwandelte sich in die schönsten und reichsten Gegenstände und Merkwürdigkeiten aller Art, von welchen sich auch die Säcke entleerten, Dinge, wie man sie von großen Reisen als Geschenke mitzubringen pflegt. Ich stand aber peinlich verlegen bei dem aufgetürmten Haufen von Kostbarkeiten, der sich offen auf der Straße ausbreitete, und ich suchte vergeblich den Drücker der Haustüre und den Glockenzug. Ratlos und ängstlich die Reichtümer hütend, sah ich an dem Hause empor und bemerkte erst jetzt, wie seltsam es sich darstellte. Es war gleich einem alten edeln Schrank- und Täferwerke ganz von dunklem Nußbaumholz gebaut mit unzähligen Gesimsen, Kassettierungen, Füllungen und Galerien, alles auf das feinste gearbeitet und spiegelhell poliert. Es war eigentlich das nach außen gekehrte Innere eines Hauses. Auf den Gesimsen und Galerien standen altertümliche silberne Kannen und Becher, Porzellangefäße und kleine Marmorbilder aufgereiht. Fensterscheiben von Kristallglas funkelten mit geheimnisvollem Glanz vor einem dunklen Hintergrunde zwischen gemaserten Zimmer- oder Schranktüren, in denen blanke Stahlschlüssel steckten. Über dieser seltsamen Fassade wölbte sich der Himmel dunkelblau, und eine halb nächtliche Sonne spiegelte sich in der dunklen Pracht des Nußbaumholzes, im Silber der Krüge und in den Fensterscheiben.

Endlich sah ich auch, daß reichgeschnitzte Treppen zu den Galerien hinaufführten, und bestieg dieselben, Einlaß suchend. Wenn ich aber eine Türe öffnete, so sah ich nichts als ein Gelaß vor mir, welches mit Vorräten der verschiedensten Art angefüllt[708] war. Hier tat sich eine Bücherei auf, deren Lederbände von Vergoldung strotzten; dort war Geräte und Geschirr übereinandergeschichtet, was man nur wünschen mochte zur Annehmlichkeit des Lebens; dort wieder türmte sich ein Gebirge feiner Leinwand, oder ein duftender Schrank öffnete sich mit hundert Kästchen voll Spezereien. Ich machte eine Türe nach der anderen wieder zu, wohlzufrieden mit dem Gesehenen und nur ängstlich, weil ich nirgends die Mutter fand, um mich in dem trefflichen Heimwesen sofort einrichten zu können. Suchend drückte ich mich an eines der Fenster und hielt die Hand an die Schläfe, um die Spiegelung der Kristallscheibe aufzuheben; da sah ich, statt in ein Gemach hinein, in einen reizenden Garten hinaus, der im Sonnenlichte lag, und dort glaubte ich zu sehen, wie die Mutter im Glanze der lugend und Schönheit, angetan mit seidenen Gewändern, zwischen Blumenbeeten wandelte. Ich wollte das Fenster aufmachen, ihr zurufen, fand aber durchaus keinen Riegel oder Knopf, denn ich war ja außerhalb des Hauses, obschon ich aus dem Innern nach einem Garten hinausschaute. Am Ende stand ich nur an einer reichgetäferten Wand auf einem schmalen Gesimse, das meinen Füßen kaum genügenden Raum bot. Als ich mich hinausbog, um zu sehen, wie ich von der gefährlichen Stelle hinuntersteigen könne, sah ich auf der Gasse einen verkniffenen Knirps von Knaben mit grauen verwelkten Haaren, der mit einem Stecken meine Herrlichkeiten auseinanderstörte.

Sogleich erkannte ich den Jugendfeind, jenen vom Turme gestürzten Knaben Meierlein, und kletterte eilig hinunter, ihn zu verjagen. Der aber fing wütend an zu schelten und als Kindswucherer und Gläubiger aufs neue, nach so viel Jahren, seine Forderung geltend zu machen, indem er die Hand an den vom Sturze zerschlagenen Kopf drückte. Er wolle mich jetzt endlich auspfänden, rief er mit giftigen Worten, daß er zu seiner verschriebenen Sache komme; seine Rechnung sei pünktlich in Ordnung.[709]

»Du lügst, du kleiner Schuft«, schrie ich ihm zu, »mach, daß du fortkommst!« Da erhob er seinen Stock gegen mich, wir gerieten einander in die Haare und rauften uns unbarmherzig. Der wütende Gegner riß mir alle die schönen Kleider, die ich trug, in Fetzen, und erst als ich ihn keuchend und verzweifelnd am Halse würgte, entschwand er mir unter den Händen und ließ mich in der schattigen kalten Straße stehen. Ermattet sah ich mich mit bloßen Füßen dastehen. Das Haus war aber das wirkliche alte Haus, jedoch halb verfallen, mit zerbröckelndem Mauerkalk, erblindeten Fenstern, in denen leere oder verdorrte Blumenscherben standen, und mit Fensterläden, die im Winde klapperten und nur noch an einer Angel hingen.

Von meiner trefflichen Traumeshabe war nichts mehr zu sehen als einige zertretene Reste auf dem Pflaster, welche von nichts Besonderem herzurühren schienen, und in der Hand hielt ich nichts als den meinem bösen Feinde abgerungenen Stecken.

Ich trat entsetzt auf die andere Seite der Straße und blickte kummervoll nach den öden Fenstern empor, wo ich deutlich meine Mutter, alt und grau und bleich, hinter der dunklen Scheibe sitzen sah, wie sie in tiefem Sinnen ihren Faden spann.

Ich streckte die Arme nach dem Fenster empor; als sich die Mutter aber leis bewegte, verbarg ich mich hinter einem Mauervorsprung und suchte bang aus der stillen dämmerigen Stadt zu entkommen, ohne gesehen zu werden. Ich druckte mich längs den Häusern hin und wanderte alsbald an meinem schlechten Stabe auf einer unabsehbaren Landstraße dahin zurück, woher ich gekommen war. Ich wanderte und wanderte rastlos und mühselig, ohne mich umzusehen. In der Ferne sah ich auf einer ebenso langen Straße, die sich mit der meinigen kreuzte, meinen Vater vorüberwandern mit seinem schweren Felleisen auf dem Rücken.

Als ich erwachte, fiel mir ein Stein vom Herzen, so traurig war mir dieser letzte Teil der geträumten Abenteuer.[710]

So ging es nächtelang fort, obgleich zuweilen auch etwas mäßiger, so daß der erträumte Zustand an eine Art ruhiger Zufriedenheit grenzte. Einmal träumte mir, daß ich an dem Rande des Vaterlandes auf einem Berge säße, der von Wolkenschatten verdunkelt war, während das Land in hellem Scheine vor mir ausgebreitet lag. Auf den weißen Straßen, den grünen Fluren wallten und zogen Scharen von Volk und Leuten und sammelten sich zu heiteren Festen, zu verschiedenen Handlungen und Lebensübungen, was alles ich aufmerksam beobachtete. Wenn aber solche Scharen oder Aufzüge nah an mir vorübergingen und ich von den Leuten erkannt wurde, schalten sie mich im Vorbeigehen, wie ich, teilnahmlos in Trauer verharrend, nicht sehe, was um mich her geschehe, und sie forderten mich auf, ihnen zu folgen. Ich verteidigte mich aber freundlich und rief ihnen zu, ich sähe alles genau, was sie bewege, und nähme teil daran. Nur sollten sie sich jetzt nicht um mich kümmern, so sei mir wohler.

Diese Vorstellung hatten meine emsigen Traumgeister offenbar folgenden Versen eines Unbekannten entwendet, die ich am Abend vorher in einigen zerrissenen Druckblättern gelesen:


Klagt mich nicht an, daß ich vor Leid

Mein eigen Bild nur könne sehen!

Ich seh durch meines Leides Flor

Wohl euere Gestalten gehen.


Und durch den starken Wellenschlag

Der See, die gegen mich verschworen,

Geht mir von euerem Gesang,

Wenn auch gedämpft, kein Ton verloren.


Und wie die müde Danaide wohl,

Das Sieb gesenkt, neugierig um sich blicket,

So schau ich euch verwundert nach,

Besorgt, wie ihr euch fügt und schicket!
[711]

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 698-712.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der grüne Heinrich [Zweite Fassung]
Der grüne Heinrich. Zweite Fassung
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 3: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 3: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon