Viertes Kapitel

Das Flötenwunder

[643] Das Geldpack wurde mir nicht wie der Brief von dem Hauswirtskinde, sondern von dem Postboten selbst aufs Zimmer gebracht. Sein gewichtiges Treppensteigen, das so lange ausgeblieben, belebte die Leute sofort mit einer vorläufigen Genugtuung über das ungebrochene Vertrauen, das sie mir geschenkt; mit dankbarer Gesinnung empfingen sie dann ihr ziemlich aufgelaufenes Guthaben, nachdem ich das Geld nicht ohne Mühe von den vielen Hüllen und Schnüren befreit und den neuen Brief rasch durchflogen hatte, der von unsicherer, ihren Gegenstand nicht übersehender Sorge geschrieben war.

Auch der Schneider, der Schuhmacher und die übrigen Lieferanten unterschrieben ihre Rechnungen mit freundlicher Zufriedenheit und empfahlen sich für weitere Kundschaft. Das machte mir alles so viel Vergnügen, als ob es mein eigenes Verdienst wäre und ich die lieben Zahlungsmittel selbst erworben hätte. Fast bedauerte ich, daß nicht noch mehr zu bezahlen und die Herrlichkeit so bald zu Ende war; doch wurde der Übermut[643] gedämpft, als ich noch am gleichen Tage auch bar Geliehenes an gute Bekannte zurückzahlte und dieselben das Geld mit vollkommener Gleichgültigkeit beiseite legten. Hieran sah ich, daß ich in ihren Augen nicht etwas besonders Merkwürdiges getan hatte, und zog die Hörnlein der Selbstzufriedenheit wieder ein. Dennoch war ich leichten Mutes, betrachtete die Zahlungsfähigkeit der Mutter gewissermaßen als meine eigene und feierte am Abend ein kleines Befreiungsfest, mit dessen Aufwand, so bescheiden er war, das Mütterchen sich einen halben Monat lang erhalten konnte. Ich sang sogar in rascherm Takte, als seit manchen Tagen geschehen, ein Lied voll Sorgenverachtung, wie wenn ich aller Übel der Welt ledig wäre.

Allein gleich am Morgen gewahrte ich, daß noch ein Ende der Kette vorhanden in Gestalt des Häufleins Taler, welches von meinem Schatze übriggeblieben war. Denn als ich denselben erst jetzt genauer berechnete und abzählte und die letzte schon angebrochene Papierhülse vollends auseinanderschlug, zeigte es sich, daß ich höchstens ein Vierteljahr daran zu leben hatte. Ich wunderte mich nicht wenig, wie die Sorge so behende wieder hereingeschlüpft, und vermutete zuletzt, sie sei gar nicht von der Stelle gegangen, gleich der Frau des Swinegels, die im Wettlaufe mit dem Hasen ruhig in der Furche saß und rief: »Ich bin allhier!«

Doch zögerte ich nicht, einen neuen Auslauf nach dem Erwerbe zu unternehmen; mit Überlegung schlug ich, wie ich glaubte, einen klugen Mittelweg ein, indem ich ein paar kleinere Landschaften ohne Anspruch auf geistreichen Stil oder Phantasie, dagegen mit sorgfältiger Rücksicht auf Gefälligkeit zu malen begann, immerhin aber eine gewähltere Naturwahrheit zugrunde legte und nicht mit Gewalt das einmal zierlich Gewachsene ins Plumpe, das Geformte ins Formlose verwandelte. Auf diesem Wege vermeinte ich einen glücklichern Erfolg nicht verfehlen zu können, während mir unterderhand das angestrebte Gefällige der Ausführung nur zu einer gewissen reinlichen[644] Bescheidenheit geriet, die Form aber für den rohern Blick sofort wieder einen verdächtigen Anschein von Stil gewann. Das war freilich wieder nicht zweckmäßig; denn die gleichen Menschen, welche die Angelegenheiten ihres täglichen Lebens nur mit großen Worten und erhabenen Wendungen behandeln, sind es ja, die sogleich die Nase zurückziehen, wenn sie in der Kunst etwas wittern, das wie Stil oder Form aussieht.

Neben der Vorsicht, die ich an die Arbeit verwandte, beschäftigte mich noch das Abwägen der fliehenden Zeit mit der täglichen Abnahme meines Barvorrates; dies alles, mit einem geruhigen Maße von Furcht und Hoffnung durchwirkt, läßt mir jene kleine Spanne Zeit samt ihren kleinen Verhältnissen als ein Stück wohlverbrachten friedlichen Daseins erscheinen, gleichmäßig erfüllt von bescheidenem Anspruch, redlicher Tätigkeit und tröstlicher Erwartung des unbekannten Erfolges. Fehlt einem solchen Zustande einstweilen das tägliche Brot nicht, während das kommende Bedürfnis doch die Seelenkräfte wach erhält, so wäre er lebenslang leicht zu ertragen. Das erkennt man erst, wenn die Hoffnungen gebrochen sind und man den frühern Zustand, wo sie noch ungewiß waren, wieder herbeiwünscht.

Als ich beide Zwillingsbilder fertig hatte, war es mit dem zufriedenen Leben vorbei, und ich mußte auf den Handel ausgehen. Sie der öffentlichen Ausstellung anzuvertrauen, konnte ich mich nach jenem plagiatorischen Unglück nicht schon wieder entschließen, was allerdings ein Zeichen des Anfänger oder Dilettantentumes war; denn eine volle Begabung kann dergleichen leicht verschmerzen und braucht sich nicht darum zu kümmern, wie das Schattenvolk sich um das Eigentum von Ideen und Erfindungen zankt.

Ich begab mich nun zu einem angesehenen Händler, Beherrscher der Auktionen und Aufkäufer von Künstlernachlässen, welcher auch ganz neue Bilder kaufte, wenn sie vor seiner Kennerschaft Gnade fanden oder seine Gewinnlust sonst durch[645] irgendeinen geheimnisvollen Vorzug reizten. In einem schönen Hause war das Erdgeschoß mit sogenannten alten Meistern und neueren Gemälden angefüllt, und hinter den Fenstern waren stets einige zu sehen, aber niemals etwas, für das der Mann keinen Namen hatte. War es eine gewisse Geziertheit, oder war es Schüchternheit, ich ging zuerst ohne meine Landschaften hin, um sie dem Händler anzubieten in der Form, daß ich anfragte, ob ich dieselben herbringen lassen oder seinen Besuch zur Besichtigung erwarten dürfe. Mein Eintreten in die Handelsgalerie blieb gänzlich unbeachtet, da der Inhaber mit einem Häuflein Herren und Kenner dicht vor einem kleinen Rähmchen stand, dessen Inhalt sie mit zusammengesteckten Köpfen und Vergrößerungsgläsern beguckten, während er seine Lehrsätze über die Rarität vortrug. Plötzlich führte er, die Lupe in der Hand, den Trupp in ein anstoßendes Zimmer, um dort vor einem ähnlichen Gegenstande vergleichende Studien vorzunehmen, und ich blieb ein Weilchen allein in dem Raume. Endlich kehrten die Herren in aufgelöster Ordnung, in lebhaftem Gespräche begriffen, zurück, indem sie eine große Heilswahrheit zu vereinbaren und zu redigieren schienen; es handelte sich offenbar weniger um ein Geschäft als um eine jener Liebhaberkonferenzen, durch die solche Bildermänner ihrem Hasardspiel einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben pflegen. Indessen bemerkte der Kaufherr meine Anwesenheit und fragte nach meinem Begehren.

Ich brachte das Anliegen ziemlich betreten vor, im Gefühl, daß ich etwas erbitte, was kein Mensch mir zu gewähren schuldig sei, und hatte es auch kaum getan, als der Mann, ohne nur zu fragen, wer ich sei, kurz und trocken sagte, er kaufe die Sachen nicht, und sich wegkehrte.

Hiemit war mein Geschäft abgetan; ich hatte keine Veranlassung, auch nur eine Minute länger dazubleiben, und befand mich eine Viertelstunde später wieder zu Hause bei den zwei Bildchen.[646]

Ich unternahm an diesem Tage nichts Weiteres, durch ein unheimliches Gefühl von Ärger und Sorge beklemmt. Ich konnte mir nicht klarmachen, daß das Verhalten des Händlers dasjenige der meisten Leute war, die alles, was sie nicht von sich aus wünschen und suchen, durch die immergrüne Hecke der abschlägigen Antwort von sich abhalten und es darauf ankommen lassen, was zu ihrem Nutzen sich allenfalls dennoch hindurchdrücken wolle und könne.

Am nächsten Tage machte ich mich abermals auf den Weg, nahm aber klüglich die in ein Tuch gewickelten Bilder mit, damit sie wenigstens angesehen wurden. Ich suchte einen Händler von minderm Range auf, bei dem die Verkehrssummen schon beträchtlich niedriger standen als bei dem vorigen, obschon er mit den Gegenständen besser umzugehen, sie sogar selber zu reinigen, auszubessern und neu zu firnissen verstand. Ich traf ihn in einem ziemlich dunklen Lokale inmitten seiner Töpfchen und Gläser, wie er eben die Löcher einer alten bemalten Leinwand ausflickte. Er hörte mich aufmerksam an und stellte meine Landschaften selbst in ein möglichst günstiges Licht, und nachdem er die Hände an der Schürze abgewischt, schob er sein Samtkäppchen über den kahlen Vorderkopf zurück, stützte die Hände gegen die Hüfte und sagte sogleich, ohne sich lange zu besinnen: »Die Sachen sind nicht übel, aber sie sind nach alten Kupferstichen gemacht, und zwar nach guten!«

Erstaunt und verdrießlich erwiderte ich: »Nein, diese Bäume habe ich selbst alle nach der Natur gezeichnet, und sie stehen wahrscheinlich jetzt noch; auch das übrige existiert beinahe alles, wie es hier ist, nur liegt's etwas mehr auseinander!«

»In diesem Falle kann ich die Bilder erst recht nicht brauchen!« versetzte er, indem er die betrachtende Stellung aufgab und das Käppchen wieder zurechtrückte; »man wählt nach der Natur keine Motive, die wie aus alten Kupferstichen aussehen! Man muß mit der Zeit leben und vorwärtsschreiten!«

Da hatte ich die ganze Stilfrage in einer Nuß. Ich packte[647] meine Bilder zusammen und warf im Abgehen einen wehmütigen Blick auf die Sammlung roher Zufälligkeiten und gemalter Düngerhaufen, welche als Zeitgemäßes oder eigentlich eher die Zukunft Ahnendes die Wände bedeckten, da es die Arbeiten armer Teufel waren, die aus Ungeschick mit billigem Pinsel und im Dunkeln das schufen, was seither anspruchsvoll ins Licht getreten ist. Ich stand allerdings selber höchst kümmerlich auf der Gasse, kehrte jedoch mit dem Stolze eines verarmten Hidalgo dem Hause den Rücken und wanderte weiter. Unentschlossen, ob ich nicht lieber nach meiner Wohnung zurück wolle, durchirrte ich mehrere Straßen und geriet vor den Kaufladen eines israelitischen Schneiders, der zugleich mit neuen Kleidern und mit neuen Bildern handelte. Manche Künstler ließen sich von ihm bekleiden, und er mochte dadurch, indem er an Zahlungsstatt zuweilen eine Malerei zu übernehmen oder zu pfänden genötigt war, zu einem kleinen Galeriebesitzer geworden sein, der schon mehr als einen guten Schnitt gemacht hatte, wenn er entweder die Arbeiten bedrängter Kunstjünger erworben, die nachher zu Ruf gekommen, oder wenn er, ohne es zu wissen, von andern Unkundigen ein wertvolles Stück erwischte. Vor demjenigen Teil seines Geschäftslokales, worin die Bilder aufgestellt waren, sah ich einen Augenblick durch das Fenster, und da der Raum wenigstens von reinlicher Ordnung und Sorgfalt zu zeugen schien, so lockte mich das, einzutreten und mein Angebot aber mals vorzubringen. Der Handelsmann zeigte sich gleich bereitwillig, die Sachen anzusehen, betrachtete sie mit lüsterner Neugierde, ließ sich alles Wie, Was und Wo erklären und fragte zuletzt, ob ich die Dinger wirklich selbst gemacht habe und ob sie gut gemalt seien? Das war gar nicht so naiv, wie es aussah; denn er blickte mich in der Zeit genau an, um aus meiner Miene den Grad eines berechtigten oder eiteln Selbstvertrauens zu lesen, wie er einen andern, der ihm einen goldenen Ring antrug, zunächst fragte, ob derselbe auch echt sei; im letztern Fall erkannte er das Gold schon vorher und[648] wollte durch die Frage erfahren, mit welchem Menschen er zu tun habe; in meinem Falle dagegen wußte er den Menschen im voraus zu beurteilen, durch dessen Verhalten aber wollte er erfahren, wie er das Handelsobjekt anzufassen habe. Als ich zögernd erwiderte, ich hätte die Bilder so gut gemacht, als es nur möglich gewesen, ohne daß es mir anstehe, sie zu loben; auch werden sie wohl nicht sehr vortrefflich sein, sonst würde ich nicht damit hier stehen; immerhin aber seien sie des bescheidenen Preises wert, den ich verlange – schien ihm das nicht übel zu gefallen, und er wurde freundlich und gesprächig, indem er dazwischen die Bilder ab und zu ebenso unentschlossen als wohlwollend betrachtete. Ich begann die gute Hoffnung zu schöpfen, daß sich jetzt etwas ereignen werde; allein es erfolgte nichts weiter als das plötzliche Anerbieten, die Bilder in Kommission zu übernehmen, in seinem Lokale auszustellen und so vorteilhaft als tunlich zu verkaufen. Hiebei blieb es denn auch; denn zu etwas Weiterm hätte sich der Mann nicht verstanden, und sein Vorschlag war nicht unbillig, sein Verhalten aber menschlich, da es mir Hoffnung ließ und ich mit leichterm Herzen meine Wohnung aufsuchen konnte, als wenn ich die Bilder wieder hätte hintragen müssen.

So blieb mir für einmal die Welt des Erwerbes wie durch eine Mauer verschlossen, an welcher ich keine Türe fand, nicht ein Schlupfloch, durch welches eine Katze gekrochen wäre. Ich hatte freilich auf den drei Gängen gewiß nicht hundert Worte verloren, allein auch ein hundertundeintes hätte nicht geholfen; wäre Erikson noch dagewesen, so würde er mir die Bilder mit wenig Worten verkauft haben, indem er hinging und sagte: »Was fällt Euch ein? Ihr müßt sie nehmen!« Oder Ferdinand Lys hätte sie mich ausstellen lassen und mit seinem Ansehen als reicher Mann einem andern Reichen empfohlen, und ich wäre wie hundert andere auf einen leidlich breiten Weg geraten und auf ihm geblieben. Aber beide Freunde hatten sich von der Kunst selbst abgewendet und lebten, wo ich nicht wußte,[649] gleich Abgeschiedenen, die dem Zurückgebliebenen fernher zuzuwinken schienen: Geh du dort auch weg!

Sonst besaß ich, was man gute Bekanntschaften nennt, in der Künstlerwelt nicht mehr, weil ich fast ausschließlich mit Studierenden und angehenden Gelehrten umging und als ein geselliger Hospitant ihre Spruch- und Lebensarten teilte. In demselben Maße büßte ich erst den äußern, dann auch halbwegs den innern Habitus eines Kunstjüngers ein. Während Wahl und Pflicht mich an das körperliche Schaffen banden, gewöhnte sich der Geist an das Leben in seiner eigenen Bewegung; das langsame, kaum mehr von Hoffnung beseelte Hervorbringen eines einzigen Gedankens durch die Hände schien voll unnützer Mühsal zu sein, wenn in der gleichen Zeit tausend Vorstellungen auf den Flügeln des unsichtbaren Wortes vorüberzogen. Diese verkehrte Empfindung beschlich mich um so unbewachter, als meine Teilnahme an wissenschaftlichen Dingen sich auf Hören und Lesen, auf bloßes Empfangen und Genießen beschränkte und ich die Arbeit wissenschaftlichen Hervorbringens nicht aus Erfahrung kannte. So drehte ich mich gleich einem Schatten umher, der durch zwei verschiedene Lichtquellen doppelte Umrisse und einen verfließenden Kern erhält.

Mit dieser Beschaffenheit trat ich nun abermals in den unfreien Zustand des Borgens über, als der letzte Taler wirklich ausgegeben war. Der Anfang fiel mir diesmal, als eine untröstliche Wiederholung, schwerer, der Fortgang aber machte sich wie in dumpfem Traume von selbst, bis die Zeit wieder erfüllt war und das Erwachen folgte mit der Not des Bezahlens und des Weiterlebens.

Erst jetzt entschloß ich mich, die Zuflucht nochmals zur Mutter zu nehmen, wie es ja ein Kennzeichen des Menschengeschlechtes ist, daß das Junge, solang es immer angeht, zum Alten zurückkehrt. Jugend, welche sich reiner Absichten und eines guten Willens bewußt ist, weist mit ihrem allgemeinen Weltvertrauen auf ihre lange Zukunft hin, freilich vergessend,[650] daß sie dieselbe leichtlich, ja wahrscheinlich allein erlebt und schließlich die Bitterkeit des Volkswortes nach rückwärts und vorwärts kosten muß, daß eine Mutter eher sieben Kinder erhält als sieben Kinder die Mutter.

Die neuen Ersparnisse, die sie ohne Zweifel gemacht hatte, konnten nicht soviel betragen, als ich jetzt bedurfte; ich wollte daher gründlich zu Werke gehen und schlug ihr in einem Briefe, worin ich mich noch leichter stellte, als mir zu Mut war, die Erhebung eines Anleihens auf das Haus vor. Das sei, meinte ich, eine unverfängliche ruhige Sache, welche nach gefundenem Glücksanfang durch meinen Fleiß ebenso ruhig wieder ausgeglichen werde und höchstens einige Zinsen koste.

Die Mutter erschrak heftig über diesen Brief, an dessen Statt sie mich selber jeden Tag sehnlich erwartete, wenn auch nicht mit rühmlichem Glücke, so doch in zufriedenem Zustande. Sie sah alles wieder in unbekannte Ferne gerückt. Ersparnisse besaß sie diesmal nur wenige, da sie an unsern Mietern Verluste erlitten; denn der gute Eichmeister war seinen beruflichen Trinkproben erlegen und mit Hinterlassung von Schulden gestorben, und der unzufriedene Beamte hatte in einem Anfalle von Entrüstung über fortwährendes Hintansetzen eine kleine Sportelnkasse geleert und war nach Amerika gegangen, um dort gerechtere Vorgesetzte zu suchen. Dabei hatte er auch meine Mutter mit einem Jahreszinse im Stiche gelassen, so daß mein Unheil sich mit diesen Unglücksfällen in unheimlicher Weise vermengte. Dazu kam die Vereinsamung durch den Tod der Nahestehenden: nach dem Oheim war auch Annas Vater, der Schulmeister, sowie der und jener gute alte Freund gestorben, und noch andere waren aus der Welt gegangen, wie denn zuweilen, wenn die Jahre vorrücken, viele auf einmal gehen, die ihre Zeit erreicht haben. Sie hätte zwar alle diese Toten nicht befragt, was zu tun sei; allein die Einsamkeit vergrößerte ihren Schrecken, und um nur wieder in Bewegung zu kommen und das Lebendige zu spüren, erfüllte sie mein Begehren. Sie[651] suchte einen Geschäftsmann auf, der die verlangte Summe mit allen möglichen Umständen und Formen beschaffte, wobei sie als schüchterne Gesuchstellerin dazustehen hatte. Dann besorgte sie auf erhaltenen Rat mit sauren Gängen noch eine Handelsanweisung, die sie an mich abzusenden endlich froh war. In ihrem Briefe beschränkte sie sich auf eine Beschreibung dieser Mühen, anstatt sich in Ermahnungen und Klagen zu ergehen.

Nun hatte ich, als ich meinen Brief geschrieben, im letzten Augenblicke und in der Furcht, zuviel zu verlangen, die Höhe der berechneten Summe fast auf die Hälfte heruntergesetzt und gedacht, es müsse auch so gehen. Der Betrag des Wechsels reichte daher kaum zur Bezahlung der Schulden aus, und auch so war ich genötigt, wenn ich nur auf kurze Frist etwas übrigbehalten wollte, für freundschaftlich Geliehenes da oder dort, wo kein Bedürfnis drängte, um Stundung zu bitten. An dem zögernden Gewähren merkte ich, daß die Bitte unerwartet kam, und so zwang mich die Beschämung, sie zurückzuziehen. Nur einer, der mein Erröten sah, wies das Geld zurück, obschon er in Bälde abzureisen willens war. Ich solle es ihm wiedergeben, wenn es mir leichter falle, er könne es jetzt entbehren und werde schon gelegentlich von sich hören lassen.

Durch diese Nachsicht sah ich mich auf eine Reihe von Wochen noch geborgen. Aber der ganze Vorgang erweckte mir ein ernsteres Nachdenken über meine Lage und über mich selbst nach der inneren Seite hin. Plötzlich kaufte ich einige Bücher Schreibpapier und begann, um mir mein Werden und Wesen einmal recht anschaulich zu machen, eine Darstellung meines bisherigen Lebens und Erfahrens. Kaum war ich aber recht an der Arbeit, so vergaß ich vollkommen meinen kritischen Zweck und überließ mich der bloß beschaulichen Erinnerung an alles, was mir ehedem Lust oder Unlust erweckt hatte; jede Sorge der Gegenwart entschlief, während ich schrieb vom Morgen bis zum Abend und einen Tag wie den andern, aber nicht wie ein[652] Sorgenschreiber, sondern wie einer, der während schöner Frühlingswochen in seinem Gartensaale sitzt, ein Glas alten Landweines zur Rechten und einen Strauß jünger Feldblumen zur Linken. Ich hatte in der trüben Dämmerung, die mich schon geraume Zeit umgab, das Gefühl bekommen, als ob ich eigentlich keine Jugend erlebt hätte; und nun entwickelte sich unter meiner Hand eine Bewegung jungen Lebens, die trotz aller Bescheidenheit der Zustände und Verhältnisse mich gefangennahm, beschäftigte und bald mit glückseligen, bald mit reumütigen Empfindungen erfüllte.

So gelangte ich bis zu der Stunde, da ich als Rrekrut auf dem Felde stand und die schöne Judith auswandern sah, ohne mich regen zu dürfen. Hier legte ich die Feder weg, weil das seither Erlebte mir noch gegenwärtig war. Die vielen beschriebenen Blätter brachte ich unverweilt zu einem Buchbinder, um sie mittelst grüner Leinwand in meine Leibfarbe kleiden zu lassen und das Buch in die Lade zu legen. Nach einigen Tagen ging ich vor Tisch hin, es zu holen. Da hatte der Handwerker mich mißverstanden und den Einband so fein und zierlich gemacht, wie es mir nicht eingefallen war, ihn zu bestellen. Statt Leinwand hatte er Seidenstoff genommen, den Schnitt vergoldet und metallene Spangen zum Verschließen angebracht. Ich trug die Barschaft, die ich noch besaß, bei mir; sie hätte noch für mehrere Tage ausreichen sollen, jetzt mußte ich sie bis auf den letzten Pfennig hinlegen, um den Buchbinder zu bezahlen, was ich ohne weitere Besinnung tat, und anstatt zum Mittagessen zu gehen, konnte ich mich mit dem unnützesten Werke der Welt in der Hand nach Hause verfügen. Zum ersten Male in meinem Leben saß ich nicht zu Tisch, wohl fühlend, daß es mit dem Borgen und Bezahlen vorbei sei. In einigen Tagen wäre das merkwürdige Ereignis allerdings doch eingetreten; dennoch überraschte es mich jetzt mit sehr stiller, aber unerbittlicher Gewalt. Ich verbrachte die zweite Hälfte des Tages auf meinem Zimmer und legte mich abends, früher als gewöhnlich,[653] ungegessen zu Bett. Dort erinnerte ich mich plötzlich der weisen Tischreden der Mutter, wenn ich als kleiner Junge das Essen getadelt hatte und sie mir dann vorhielt, wie ich einst vielleicht froh sein würde, nur solches Essen zu haben. Die nächste Empfindung war ein Gefühl der Achtung vor der ordentlichen Folgerichtigkeit der Dinge, wie alles so schön eintreffe; und in der Tat ist nichts so geeignet, den notwendigen Weltlauf gründlich einzuprägen, als wenn der Mensch hungert, weil er nichts gegessen hat, und nichts zu essen hat, weil er nichts besitzt, und dies, weil er nichts erworben hat. An diesen einfachen und unscheinbaren Gedankengang reihen sich von selbst alle weiteren Folgen und Untersuchungen, und indem ich nun völlige Muße hatte und von keiner irdischen Nahrung beschwert war, überdachte ich von neuem mein Leben, trotz des grünseidenen Buches, das auf dem Tische lag, und gedachte meiner Sünden, welche jedoch, da der Hunger mich unmittelbar zum Mitleid mit mir selber stimmte, sich ziemlich glimpflich darstellten.

Hierüber schlief ich friedfertig ein. Zu gewöhnlicher Zeit erwachte ich, auch zum ersten Mal ohne zu wissen, was ich am heutigen Tage essen würde. Ich hatte seit einiger Zeit das Frühstück abgeschafft, da ich es überflüssig gefunden; nun wäre ich froh gewesen, es noch zu bekommen, allein die Wirtsleute durften nicht erfahren, daß ich hungerte, so wie es mir jetzt klar wurde, daß das erste Erfordernis meiner neuen Lage die strengste Geheimhaltung sei. Weil ich als ein Überbleibsel schon abgezogener Jugendvölker lebte, besaß ich in diesem Augenblicke nicht einen einzigen Vertrauten, dem man eine so auffällige Tatsache eröffnen konnte. Denn wer, ohne ein Bettler zu sein, eines Tages mitten in der Gesellschaft faktisch nicht mehr essen kann, macht ein Aufsehen wie ein Hund, dem man den Suppenlöffel an den Schwanz gebunden hat. Statt mich hinter meinen gemalten Wäldern still verborgen halten zu können, war ich daher gezwungen, um die Mittagszeit auszugehen.[654] Es lag die hellste Frühlingssonne auf den Straßen; alles eilte vergnüglich durcheinander, jeder nach seinem Tischorte. Ich ging gefaßt hindurch, ohne mir etwas ansehen zu lassen, und bemerkte hiebei, daß die Begierde zunächst nicht sowohl nach einer guten Mahlzeit als nach einem der frischen bräunlichen Brote ging, die ich vor den Bäckerläden liegen sah; so schnell richtete sich der Wunsch des Bedürfnisses nur auf dieses einfachste und allgemeinste Nahrungsmittel, das uralte Wort vom täglichen Brote zu Ehren bringend.

Aber nun galt es wieder, im Vorübergehen das gierige Auge nicht eine Sekunde daran haften zu lassen, damit die Herrschaft des geistigen Menschen aufrechterhalten blieb, und so ging ich auch, anstatt unentschlossen zu schlendern, raschen Schrittes in eine öffentliche Gemäldesammlung, um dort die Zeit anständig mit Betrachtung der Meisterwerke zu verbringen, deren Urheber in ihren Lebtagen auch dies und jenes hatten erfahren müssen. Es gelang mir, die nagenden Naturkräfte während einiger Stunden zu bändigen und den zwischen ihnen und mir schwebenden Streithandel zu vergessen. Als die Säle geschlossen wurden, ging ich sogleich aus der Stadt und lagerte mich am Flusse in einem frischbelaubten Gehölze, wo ich in leidlicher Ruhe verborgen blieb, bis es dunkel war. Seit zwei langen Tagen an den unheimlichen Zustand schon etwas gewöhnt, beschlich mich eine traurige Geduld, welcher derselbe allenfalls erträglich schien, wenn es nur nicht ärger käme. Ich hörte, wie alle Vögel allmählich ihr Zwitschern einstellten und die Nachtruhe der Kreatur eintrat, während das Geräusch der fröhlichen Stadt herübersummte. Als aber in der Nähe plötzlich das Geschrei eines Vogels ertönte, der von einem Marder oder Wiesel erwürgt wurde, raffte ich mich auf und ging nach Hause.

Ähnlich verlief der dritte Tag, nur daß ich jetzt in allen Gliedern müde wurde, langsamer dahinschlenderte und auch in meinen zerstreuten Gedanken zusehends herunterkam. Eine[655] fast gleichgültige Neugierde, wie es eigentlich werden solle, behielt die Oberhand, bis am vorgerückten Nachmittage, als ich ziemlich weit von Hause in einem offenen Garten saß, der Hunger so heftig und peinlich sich erneuerte, daß ich vollständig das Gefühl hatte, wie wenn ich in menschenleerer Wüste von einem Tiger oder Löwen angefallen wäre. Eine Art Todesgefahr war jetzt augenscheinlich; aber sie bezwang gerade in dieser höchsten Not meinen neubestärkten Vorsatz nicht, keine Hilfe anzusprechen. Ich marschierte so ordentlich, als es gehen wollte, nach meiner Wohnung und legte mich zum dritten Male ungegessen zu Bette; glücklicherweise mit dem Gedanken, daß das kein anderes und kein schmählicheres Abenteuer sei, als wenn ich mich etwa im Gebirge verirrt hätte und dort drei Tage ohne Nahrung zubringen müßte. Ohne diesen Trost würde ich eine sehr schlimme Nacht verlebt haben, während ich wenigstens gegen Morgen in einen schlafähnlichen Zustand geriet, aus welchem ich erst erwachte, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Freilich fühlte ich mich jetzt ernstlich schwach und unwohl und wußte nicht, was zu tun sei.

Erst jetzt wurde ich recht ärgerlich und etwas weinerlich und gedachte der Mutter, nicht viel anders als ein verlaufenes Kind. Wie ich aber dieser Geberin meines Lebens gedachte, fiel mir auch ihr höchster Schutzpatron und Oberproviantmeister, der liebe Gott, wieder ein, der mir zwar immer gegenwärtig war, jedoch nicht als Kleinverwalter. Und da in der Christenheit das objektlose Gebet damals noch nicht eingeführt war, so hatte ich mich auf der glatten See des Lebens aller solcher Anrufungen längst entwöhnt. Diejenige, nach welcher sich unmittelbar der unkluge Römer eingefunden, war meines Erinnerns die letzte gewesen.

In diesem Augenblicke der Not aber sammelten sich meine paar Lebensgeister und hielten Ratsversammlung, gleich den Bürgern einer belagerten Stadt, deren Anführer darniederliegt. Sie beschlossen, zu einer außerordentlichen verjährten Maßregel[656] zurückzukehren und sich unmittelbar an die göttliche Vorsehung zu wenden. Ich hörte aufmerksam zu und störte sie nicht, und so sah ich denn auf dem dämmernden Grunde meiner Seele etwas wie ein Gebet sich entwickeln, wovon ich nicht erkennen konnte, ob es ein Krebslein oder ein Fröschlein werden wollte. Mögen sie's in Gottes Namen probieren, dachte ich, es wird jedenfalls nicht schaden, etwas Böses ist es nie gewesen! Also ließ ich das zustande gekommene Seufzerwesen unbehindert gen Himmel fahren, ohne daß ich mich seiner Gestalt genauer zu erinnern vermöchte.

Ein paar Minuten hielt ich die Augen geschlossen. Du wirst doch aufstehen müssen! sagte ich mir und nahm mich zusammen. Wie ich nun so vor mich hinblickte, sah ich aus einer Ecke des Zimmers einen kleinen Glanz herüberleuchten, wie von einem goldenen Fingerring, nahe dem Boden. Es blinkte ganz seltsam und lieblich, da sonst dergleichen Licht keines im Zimmer war. So stand ich auf, die Erscheinung zu untersuchen, und fand, daß der Glanz von der metallenen Klappe meiner Flöte herrührte, die seit Monaten ungebraucht in jener Ecke lehnte gleich einem vergessenen Wanderstabe. Ein einziger Sonnenstrahl traf das Stückchen Metall durch die schmale Ritze, welche zwischen den verschlossenen Fenstervorhängen offengelassen war; allein woher, da das Fenster nach Westen ging und um diese Zeit dort keine Sonne stand? Es zeigte sich, daß der Strahl von der goldenen Spitze eines Blitzableiters zurückgeworfen war, die auf einem ziemlich entfernten Hausdache in der Sonne funkelte, und so seinen Weg gerade durch die Vorhangspalte fand. Indessen hob ich die Flöte empor und beschaute sie. Die brauchst du auch nicht mehr! dachte ich, wenn du sie verkaufst, so kannst du wieder einmal essen! Diese Erleuchtung kam wie vom Himmel, gleich dem Sonnenstrahl. Ich kleidete mich an, trank ein großes Glas Wasser, an welchem ich keinen Mangel litt, und begann die Flöte auseinanderzunehmen und die Stücke vom Staube sorgfältig zu reinigen. Dann rieb[657] ich sie mit einem Restchen Firnis und wollenen Läppchen tüchtig ab, salbte sie auch inwendig mit weißem Mohnöl, in Ermangelung von Mandelöl, das man sonst nimmt, damit das Instrument auch tönte, wenn es etwa geprüft wurde. Dann suchte ich das alte Flötenkästchen hervor und legte die Querpfeife so feierlich hinein, als ob ihr die wunderbarsten Kräfte inwohnten, und nun machte ich mich ohne längeres Säumen, und so rasch mich die matten Beine trugen, auf den Weg, einen Käufer für die alte Jugendfreundin zu suchen.

Es dauerte nicht lange, so stieß ich in einer Seitengasse auf den kleinen dunklen Laden eines Trödlers, hinter dessen Fenster ich neben etwas altem Porzellangeschirr eine Klarinette stehen sah; an dem andern Fenster hingen ein paar vergilbte Kupferstiche, in einem Rähmchen das verblichene Miniaturbildnis einer Militärperson in verschollener Uniform sowie eine Taschenuhr, auf deren Zifferblatt eine Schäferszene gemalt war. Hier ging ich hinein und fand inmitten seines Trödels ein seltsames ältliches Männchen, kurz und wohlbeleibt, in einen langen Hausrock gemummt und darüber noch eine weiße Frauenschürze vorgebunden. Auf dem rundlichen Kopfe trug er eine wunderliche Schirmmütze, die wie die Muschel des Papiernautilus gebaut war. Diese Figur stand eben über einen kleinen Kochherd gebückt und rührte in einem Topfe, als ich eintrat. Das Trödelmännchen sah auf und fragte mich nicht unfreundlich, was ich wünsche, worauf ich mit leiser Stimme sagte, ich hätte eine Flöte zu verkaufen. Neugierig öffnete er das Kästchen, gab es aber sogleich zurück und sagte: »Richten Sie einmal das Ding zusammen, so weiß ich ja nicht, was es ist!« Als ich die drei Bestandteile gehörig zusammengesetzt hatte, nahm er das Instrument in die Hand und betrachtete es von allen Seiten, sah auch darüber weg, ob es nicht etwa krumm oder verzogen sei.

»Warum wollen Sie's denn verkaufen?« fragte er, und ich meinte, weil ich's nicht mehr haben wolle. »Aber tönt sie auch,[658] die Flöt'? Dort hab ich schon lang ein Klarinett stehen, das keinen Laut von sich gibt, da bin ich mit angeschmiert worden. Blasen Sie mal!«

Ich blies eine Tonleiter, er wollte aber ein ganzes Stücklein hören; ich fing also, obschon mir nicht musizierlich zu Mut war, mit schwachem Atem die Arie aus der Freischützoper an:


Und ob die Wolke sie verhülle,

Die Sonne bleibt am Himmelszelt.

Es waltet dort ein heil'ger Wille,

Nicht blindem Zufall dient die Welt.


Es war das erste Musikstück, das ich vor Jahren einst gelernt hatte und das mir daher jetzt am ehesten einfiel. Nicht nur aus Schwäche, sondern auch in einem wehmütigen Gefühle meiner Lage und der Erinnerung an jene sorglosen Zeiten fiel der Vortrag ein wenig tremulierend oder zitterhaft aus, und ich gelangte nur bis zum zehnten oder zwölften Takte. Allein das Männchen verlangte die Fortsetzung, und ich blies aus Furcht, der Handel könnte sich zerschlagen, in erbärmlicher Demütigung weiter, indessen der Trödler kein Auge von mir wandte. Ich kehrte mich ab und schaute mit bitter nassen Augen durch das Fenster.

Da blickte gleich einem Sonnenaufgang das schönste Mädchengesicht herein, heiter wie der Frühlingstag, lachte holdselig und klopfte mit feinbeschuhter Hand an die Scheibe. Es war ein offenbar vornehmes Frauenzimmer, und der Trödelgreis beeilte sich eifrig, das Fenster so weit zu öffnen, als es wegen der hinter demselben befindlichen Trödelware anging.

»Na, Mannerl, was haben's denn da für ein Konzert?« sagte sie im vertraulichen Landesdialekt, den sie nur aus Freundlichkeit zu brauchen schien; dann aber, eh das überraschte Männlein eine Antwort fand, fragte sie nach gewissen chinesischen Tassen, die er zu liefern versprochen habe. Ich hatte mich inzwischen[659] auf eine Kiste gesetzt und schaute, ausruhend von dem mühseligen Spiele, das liebliche Frauenwesen an, das nach rasch beendigter Rücksprache noch einen unbefangenen Blick in den Raum warf und dessen Glanz auch über meine traurige Person hinlaufen ließ.

»Schaffen's, daß ich die alten Tasserl bekomm, und jetzt können's mit der Musik fortfahren!« rief sie noch und verschwand mit anmutigem Gruße vom Fenster. Der Alte war von der unverhofften Erscheinung ganz aufgeregt; der Maienglanz dieses Gesichtes hatte ihn unzweifelhaft erwärmt und in die beste Stimmung versetzt.

»Die Flöten geht ja ganz ordentlich«, sagte er zu mir; »was wollen's denn dafür haben?«

Als ich nicht wußte, was ich fordern sollte, holte er einen und einen halben Gulden hervor, in zwei funkelneuen Stücken. »Sein's zufrieden damit?« sagte er, »machen's kein' Umständ, das ist ein schönes Geld!« Ich war zufrieden und dankte sogar in der Eile aufrichtig nach Maßgabe meines Rettungsgefühles, was in seinem Verkehre nicht oft vorkommen mochte. Er klopfte mir gemütlich auf die Achsel und ließ sich zeigen, wie die Flöte auseinanderzunehmen und in das Futteral zu legen sei. Das Kästchen stellte er sodann geöffnet hinter das Fenster.

Auf der Straße besah ich die beiden Münzen genauer, um mich nochmals zu versichern, daß ich wirklich die Macht in der Hand halte, den Hunger zu stillen. Der helle Silberglanz, der Glanz der vorhin gesehenen, noch nachwirkenden zwei Augen und der Sonnenstrahl, der am Morgen kurz nach dem Gebete mir die vergessene Flöte gezeigt hatte, schienen mir alle aus der nämlichen Quelle zu kommen und eine transzendente Wirkung zu sein. Mit dankbarer Rührung, aller Lebenssorge ledig, wartete ich die Mittagsstunde ab, überzeugt, daß der liebe Gott doch unmittelbar geholfen habe. Es wird deswegen ja doch mit rechten Dingen zugehen, dachte ich in meiner so hart[660] angefochtenen Eigenliebe, und ich kann mir dies still bescheidene Wunder wohl gefallen lassen und darf Gott rechtmäßig danken. Schon der Symmetrie wegen fügte ich dem heutigen Morgengebetchen jetzt ein kurzes Dankgebet bei, ohne den großen Weltherrn mit vielen oder lauten Worten belästigen zu wollen.

Nun aber säumte ich nicht länger, das gewohnte Speisehaus aufzusuchen, das ich seit einem Jahre nicht mehr betreten zu haben glaubte, so lang dünkten mich die drei Tage. Ich aß einen Teller kräftiger Suppe, ein Stück Ochsenfleisch mit gutem Gemüse und eine landesübliche Mehlspeise. Dazu ließ ich mir einen Krug Bier geben, das herrlich schäumte, und alles schmeckte mir so trefflich, wie wenn ich am feinsten Gastmahle gesessen hätte. Ein unverheirateter Arzt, der auch dort zu speisen pflegte, bemerkte freundlich, er habe vorhin geglaubt, ich sei krank, so übel sehe ich aus; allein da ich so frischen Appetit habe, so scheine es doch nicht gefährlich zu sein. Ich entnahm hieraus, daß ich mich wenigstens einer guten Gesundheit erfreute, woran ich bisher nicht gedacht hatte, und hiefür war ich der Vorsehung auch dankbar; denn einem kränklichen oder schwächlichen Gesellen hätte die Strapaze schlimmer ablaufen können.

Nach Tisch begab ich mich in ein Kaffeehaus, um dort bei einer Tasse schwarzen Trankes auszuruhen und dabei die Zeitungen zu lesen und zu sehen, was in der Welt vorging. Denn auch darin war ich die drei Tage wie in der Wüste gewesen, daß ich mit niemand gesprochen und keinerlei Neuigkeit vernommen hatte. Ich fand auch allerlei Nachrichten und Weltbegebenheiten, die sich in der Zeit angesammelt; über dem behaglichen Lesen kehrten aber zusehends meine Leibes- und Verstandeskräfte zurück, und als ich den Bericht las, wie in einer Stadtkirche das Volk zusammenlaufe, weil ein Marienbild dort die Augen bewegen solle, kam ich betroffen auf mein stilles Privatwunder zu denken und sagte mir nach einigem Besinnen, in ganz verändertem Seelentenor, als ich vor[661] dem Essen gehabt: Bist du denn besser als diese Bildanbeter? Da kann man wohl sagen, wenn der Teufel hungrig ist, so frißt er Fliegen, und der Heinrich Lee schnappt nach einem Wunder!

Und doch zögerte ich, mich der wohltuenden Empfindung einer unmittelbaren Vorsorge und Erhörung, eines persönlichen Zusammenhanges mit der Weltsicherheit zu entledigen.

Schließlich, um dieses Vorteils nicht verlustig zu gehen und doch das Vernunftgesetz zu retten, erklärte ich mir den Vorgang so, daß die anererbte Gewohnheit des Gebetes an die Stelle einer energischen Zusammenfassung der Gedankenkräfte getreten sei, durch die damit verbundene Herzenserleichterung jene Kräfte frei und sie fähig gemacht habe, das einfache Rettungsmittel, das bereitlag, zu erkennen oder ein solches zu suchen; daß aber eben dieser Prozeß göttlicher Natur sei und Gott in diesem Sinne ein für allemal die Appellation des Gebetes den Menschen delegiert habe, ohne im einzelnen Fall einzugreifen, auch ohne sich für den jedesmaligen unbedingten Erfolg zu verbürgen. Vielmehr habe er die Anordnung getroffen, daß, um den Mißbrauch seines Namens zu verhüten, Selbstvertrauen und Tatkraft, solange sie irgend ausreichen, Gebeteswert haben und vom Erfolge gesegnet sein sollen.

Noch heute lache ich weder über die Geringfügigkeit jener Not noch über den vorübergehenden Wunderglauben, noch über die pedantische Abrechnung, die demselben folgte. Ich würde die Erfahrung, einmal im Leben den starken Hunger gespürt zu haben, das Wunder des lieblichen Sonnenblickes nach dem Gebete und die kritische Auflösung desselben nach erfolgter Leibesstärkung nicht hergeben; denn Leiden, Irrtum und Widerstandskraft erhalten das Leben lebendig, wie mich dünkt.[662]

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 643-663.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der grüne Heinrich [Zweite Fassung]
Der grüne Heinrich. Zweite Fassung
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 3: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 3: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon