Zehntes Kapitel

Glückswandel

[738] Der Schlaf war so fest und andauernd, daß ich erst um die Mitte des Vormittags munter wurde. Meine Kleider waren in gutem Zustande längst geräuschlos in das Zimmer gebracht worden; als ich sie erblickte, pries ich den Handel, den ich mit dem freundlichen Hebräer abgeschlossen. So gibt der Augenblick den Dingen stets ihren besondern Wert: der geringe Ertrag meiner Arbeit erschien mir jetzt in Gestalt eines anständigen Kleides willkommener, als mir die doppelte oder vierfache Summe zu anderer Zeit gewesen wäre.

Während ich mit dem Anziehen beschäftigt war, klopfte jemand an der Türe. Auf mein »Herein!« öffnete sich dieselbe weit, und ein großer schöner Mann stand darin, die Klinke in der Hand, das Gemach samt seinem Insassen aufmerksam überschauend.[738] Er trug einen damals noch ungewöhnlichen Vollbart, der wie das Haupthaar leicht angegraut war, und einen grauen kurzen Jagdrock mit Knöpfen von Hirschhorn.

»Guten Tag! lassen Sie sich nicht stören!« sagte er mit frischem kräftigem Klang der Stimme; »ich will nur sehen, wie es meinem Gaste geht!«

»Es geht mir ja sehr wohl, Herr Graf, insofern ich die Ehre habe, in Ihnen wirklich den Herren des Hauses zu begrüßen!« antwortete ich etwas verlegen, indem ich den Kamm weglegte, den ich gerade handhabte, und mich verbeugte, so gut ich es verstand.

»Bitte, fahren Sie fort in Ihrem Geschäfte, und tun Sie nicht anders, als wenn Sie zu Haus wären! Zuerst aber seien Sie mir willkommen!«

Er trat mit diesen Worten vollends in das Zimmer und schüttelte mir die Hand, und von dem Augenblick an verlor ich ihm gegenüber jede Befangenheit, denn in seiner Hand, seinem Blicke und seiner Stimme kündigte sich der freie Mensch an, der über den zufälligen Dingen steht.

»Nun sagen Sie aber«, rief er lebhaft, indem er sich ans offene Fenster setzte, um mir Raum zu lassen, »sind Sie in der Tat unser Mann, unser Heinrich Lee, der auf den Zeichnungen überall geschrieben steht? Ihre Bestätigung würde mir das größte Vergnügen machen. Ich habe nämlich in früheren Jahren selbst dergleichen getrieben, gab es aber wegen zu großer Ungeschicklichkeit auf; dagegen freute ich mich jedesmal, wenn es mir gelang, das eine und andere nach der Natur geschaffene Blatt zu erwerben, was indessen nicht oft vorkommt. Nichts konnte mir daher willkommener sein als der Besitz sozusagen eines ganzen derartigen Vermögens, das die vollständige Entwicklung eines redlich Strebenden und zugleich eine Menge reeller Gegenstände in sich begreift. Als wir die Gelegenheit bei dem schnurrigen Winkelmäzenaten aufstöberten, sorgte ich sogleich dafür, daß alles in meine Hand gelange, suchte auch[739] die Quelle direkt zu erfahren; allein der Alte wußte sie beharrlich geheimzuhalten!«

Ich hatte aus meiner Reisetasche ein Päcklein hervorgesucht, das neben den Briefen der Mutter meinen Reisepaß enthielt. Denselben entfaltend, hielt ich dem Grafen die Urkunde hin, welche meinen Namen und Stand amtlich bezeichnete.

»Es ist nicht anders, Herr Graf!« sagte ich, wohlgemut lachend; »ein romantisches Geschick vergönnt mir, die bescheidenen Früchte meiner Jugendjahre nochmals zu sehen und gut verwahrt zu wissen, eh ich dahin zurückkehre, wo sie entstanden sind.«

Der Graf nahm den Paß und las ihn aufmerksam, um sich die Tatsache recht einzuprägen und nicht aus Zweifel an meinen Worten, wie er sich ausdrückte.

»Es ist ein köstlicher Zufall«, setzte er hinzu; »nun kann aber zunächst von Weiterreisen keine Rede sein, wenn wir ihm die gebührende Ehre antun wollen! Mich wundert, wie Sie in Ihre mißliche Lage geraten sind und wie sich ein solches Leben gestaltet, was Sie ferner zu tun gedenken, und alles ist vergnüglich zu besprechen, während Sie sich bei uns, soviel als nötig ist, erholen –«

Plötzlich blickte er mit großen Augen auf den Tisch, von dem ich achtlos ein Handtuch weggenommen, um die Hände zu trocknen, die ich inzwischen gewaschen. Dieses Tuch hatte ich vorhin rasch über den Inhalt meiner Wandertasche geworfen, als an der Türe geklopft wurde, und nun lagen der Schädel und das eingebundene Manuskriptum meiner Jugendgeschichte offen da.

»Das ist ja ein mysteriöses Reisegepäck!« rief er, an den Tisch herantretend, »ein Totenschädel und ein grünseidener Quartant mit goldenem Schloß! Sind Sie ein Geisterbeschwörer und Schatzgräber?«

»Leider nicht, wie Sie sehen!« erwiderte ich und gab in wenigen Zügen die verdrießliche Geschichte mit dem Schädel zum[740] besten, und da das bißchen Sonnenschein mich schon fröhlicher und redseliger machte, so erzählte ich auch noch den gestrigen Scherz, den ich mit dem Waldhüter vorgehabt. Mit seinen ruhig leuchtenden Augen sah mich der Graf durchdringend an.

»Und das Buch, was ist's mit dem?«

»Das hab ich geschrieben, als ich nichts mehr zu tun und zu leben wußte; es enthält einfach die Beschreibung meiner jungen Jahre, mit welcher ich mir eine Selbstprüfung auferlegte; es ist dann aber ein bloßes Erinnerungsvergnügen daraus geworden. An dem tollen Einband bin ich nicht schuld.«

Ich erzählte, wie ich durch das Mißverständnis des Buchbinders um meine letzten Gulden gekommen, alsdann den Hunger kennengelernt habe und durch das Flötenwunder zu dem Trödler geraten sei.

»Also das ist die Geschichte, wo Dorothea Sie die Flöte blasen hörte?« rief der Graf mit herzlichem Lachen; »aber weiter! Was ist seither geschehen?«

Ich fügte noch das Abenteuer mit den Fahnenstangen hinzu und die stille Befriedigung, die mir dasselbe gebracht, sowie den Tod der Hauswirtin und so weiter bis zum Schädelwurf des Wirtes, den ich schon erzählt hatte. Die kurze Begegnung mit Hulda und das übrige verschwieg ich.

Der Graf ergriff das Buch. »Darf man es aufmachen oder gar darin lesen?« frug er, und ich bejahte es gern, wenn es ihm nicht zu langweilig sei.

»So wollen wir jetzt hinübergehen und etwas frühstücken, denn wir essen erst in drei Stunden.«

Er nahm das Buch unter den einen Arm, mich unter den andern, und wir begaben uns nach dem Schlosse, wie das Hauptgebäude genannt wurde, das zu Anfang des vorigen Jahrhunderts erbaut sein mochte. Der Graf führte mich in seine Zimmer im Erdgeschosse, deren Mittelpunkt ein heller Bibliotheksaal mit geräumigen Arbeitstischen bildete. Auf einem derselben stand ein Frühstück bereit, und da neben lag auch schon[741] die Mappe mit meinen Studien. Während Graf Dietrich kameradschaftlich die Erfrischung mit mir teilte, schlug er die Mappe auf.

»Sie müssen mir die Sachen etwas ordnen«, sagte er, »und können sich zunächst die Zeit damit vertreiben. Viele der Blätter tragen kein Datum, während die Manieren und Fertigkeiten, Sorgfältiges und Nachlässiges, glücklich Gelungenes und Mißratenes, alles zugleich mit ungleicher Sicherheit oder Unsicherheit begleitet, so durcheinandergehen, daß ich die gewünschte Einordnung nach der Zeitfolge nicht recht zustande bringe. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen! Hier ist ein Blatt, welches bei unentwickeltem Können, das offenbar auf frühere Anfänge zurückweist, dennoch den Nagel auf den Kopf getroffen hat und mit anmutigem naivem Gelingen gekrönt ist; dort paart eines mit vorgeschrittener Sicherheit des Machwerks ein sichtliches Fiasko des Gewollten, kurz, alles dies ist mir interessant, und ich wünschte die Sammlung so chronologisch genau als möglich geordnet zu sehen, das heißt, dasjenige vorbehalten, was wir überhaupt darüber noch beschließen werden. Ich habe heut früh schon in dieser Hinsicht nachgedacht!«

Ich war überrascht von dem richtigen Verständnis, mit welchem er durch hervorgezogene Beispiele sein Urteil belegte. Doch holte er aus einem Schranke noch einige Hefte herbei.

»Hier ist aber noch ein Fall, aus dem ich nicht recht klug werde; sind diese Gebilde wirklich auch von Ihnen? Ich sehe, daß es zerschnittene Sachen sind, weiß sie aber nicht zusammenzubringen.«

Es waren meine gewesenen Kartonkompositionen. Das Trödelmännchen hatte aber die Blätter der verschiedenen Hefte durcheinandergeworfen, bunte und grau in grau gehaltene, größere und kleine jedem Hefte zugeteilt und so nach seiner Meinung einen gleichmäßigern Wert der Mannigfaltigkeit in die tolle Sammlung gelegt. Auch mochte der Graf dieselbe noch nicht gründlich untersucht haben, und ich begriff, daß auf diese[742] Weise es schwierig war, einen Zusammenhang herauszufinden. Ich begann, die vielen Blätter rasch auszusondern, wählte eine hinlänglich freie Fläche des Zimmerbodens und fügte dort den altgermanischen Eichenhain zusammen.

Der Graf betrachtete das große Wesen stillschweigend, bis er sagte: »Also dergleichen haben Sie getrieben? Warum ist es denn zerschnitten?«

»Weil ich es nur auf diese Art dem Alten aufbinden konnte; denn er hätte mir für diesen ganzen bunten Karton kaum mehr gegeben, als ich dann für die einzelnen Bruchstücke erhielt. Auch hätte ich, offen gestanden, nicht gewünscht, daß die ungeheuerlichen Fahnen in seiner Unglücksspelunke gesehen und von da weiß Gott wohin verschlagen worden wären. Es konnte ja einem Bierwirt einfallen, seine Kegelbahn damit zu tapezieren, und ich wäre, da das Vorhandensein dieser Versuche in der Künstlerschaft nicht unbekannt geblieben ist, auf eine melancholische Weise sprichwörtlich geworden! So aber war es weniger wahrscheinlich!«

Ich nahm die Blätter wieder auf und legte die Urstierjagd hin, dann die mittelalterliche Stadt und die übrigen Erfindungen.

»Nun weiß ich doch, was Sie gewollt haben!« sagte der Graf; »Sie sind aber ein Barbar, denn wie können wir die Schilderei wiederherstellen ohne Verderbnis?«

»Man läßt beim nächsten Schreiner leichte Blendrahmen von Tannenholz anfertigen, bespannt diese mit einem billigen Gewebe und leimt einfach die Blätter darauf, wie sie gewesen sind; es wird ein Netz von feinen Fugen sichtbar bleiben, das nichts schadet. Aber was in aller Welt wollen Sie damit anfangen?«

»Über den Bücherschränken hier sollen sie hängen. Dunkelfarbig eingerahmt und übrigens teilweise nicht ganz fertig, wie sie sind, werden sie als Denkmale des Studiums und der Arbeit an ihrem Platze und für mich, zumal der Urheber selbst in diesem Hause gewohnt hat, ein stattliches Konkretum sein.«[743]

In der Tat boten die Wände des hohen Zimmers oberhalb der eichenen Schränke noch hinlänglichen Raum; wenn ich mir die seltsamen Früchte meiner Arbeit dort aufbewahrt vorstellte, so mußte ich mich des freundlichen Geschickes erfreuen, das ihnen doch noch vergönnt war. Denn über ihnen erhob sich feierlich die halb gewölbte Decke des Saales, und einige antike Büsten, Globen und dergleichen, die auf den Eichenschränken standen, zierten und schmückten die Bilder eher, als daß sie dieselben verbargen oder verunstalteten.

Der Graf jedoch fuhr fort: »Ihre Frage muß ich Ihnen zurückgeben: Was gedenken Sie denn mit sich selbst jetzt anzufangen?«

»Das ist mir in diesem Augenblicke zum Teil klargeworden, insoweit ich jetzt mit äußerlichen Ehren, sozusagen mit versöhntem Herzen, der Halbheit, die ich betrieben, Valet sagen und mich in letzter Stunde einem Leben zuwenden kann, das mir besser ziemt, wenn es auch bescheidener ist. Was es sein wird, weiß ich freilich noch nicht; doch werde ich nicht lange zaudern.«

»Entscheiden Sie sich nicht zu früh, obgleich ich Ihre Stimmung zu verstehen glaube! Vor allem wollen wir, fällt mir ein, das Geschäft bereinigen! Wollen Sie die Studien wiederhaben, und, wenn nicht, unter welchen Bedingungen wollen Sie mir dieselben lassen?«

»Sie sind ja Ihr Eigentum!« sagte ich verwundert.

»Was Eigentum! Sie werden doch nicht glauben, daß ich, nun ich Sie kenne und in meinem Hause habe, Ihre Mappe um das geringe Geld behalten will; denn denken Sie nicht etwa, daß ich dem Kauze viel habe bezahlen müssen; er hat sich mit einem höchst bescheidenen Gewinne begnügt. Oder wollen Sie mich etwa schon beschenken?«

»Ich meine, daß die Mappe ihr Schicksal erfüllt und ihren Dienst geleistet hat. Sie hat mir zur Zeit der Not das Leben gefristet; jeder Groschen, den sie mir eintrug, hatte für mich[744] den Wert eines Talers, und so habe ich mich ihrer zu Recht bestehend entäußert. Was hin ist, soll man fahrenlassen!«

»Dies würde mir gefallen, wenn die Umstände anders beschaffen wären. So aber ist es eine Ziererei, die wir lassen wollen. Ich bin reich und würde die Sammlung um jeden annehmbaren Preis kaufen, auch wenn Sie selber gar nichts davon bekämen, also ohne Rücksicht auf Sie. Lernen Sie auf Ihrem Rechte bestehen, wenn es niemand drückt und ängstigt, auch wenn es nur ein moralisches ist, und nehmen Sie den Wert, der Ihnen gebührt, ohne Scheu; nachher können Sie damit tun, was Sie wollen! Also nennen Sie einen Preis, wie er Ihnen gut dünkt, und ich werde froh sein, die Sachen zu behalten!«

»Gut denn«, erwiderte ich lächelnd und nicht ohne geheime Lust, meine Umstände so schnell gebessert zu sehen, »so wollen wir den Handel gründlich abschließen! Es müssen ungefähr achtzig ausgeführtere gute Blätter sein, die durchschnittlich in einem ordentlichen Verkehre, bei gerechter Schätzung, jedes seine zwei Louisdors gelten dürften, einzelne mehr, andere weniger; dann werden gegen hundert geringere Abschnitzel und Skizzen dasein, die teilweise bis zur Wertlosigkeit herabreichen. Diese rechnen wir zu einem Gulden ineinander, und von der Summe, welche sich ergibt, ziehen Sie diejenige ab, die Sie dem Herren Schmalhöfer im ganzen bezahlt haben!«

»Sehen Sie«, sagte der Graf, »das ist vernünftig gesprochen! Ich kann Ihnen gleich sagen, daß ich dem Trödler für die Sachen, die Kartons mit eingeschlossen, dreihundertundzweiundfünfzig Gulden und achtundvierzig Kreuzer bezahlt habe.«

»Dann hat er wirklich nicht so viel verdient, wie ich gedacht«, versetzte ich, »da ich ungefähr die Hälfte dieser Summe erhalten habe.«

»Das macht, er hat sich eben auf diesen Zweig seines blühenden Geschäftes nicht sonderlich verstanden! Um aber auf die Kartons zurückzukommen, die Sie beinah vernichtet haben, so verhandeln wir dieselben später, wann sie wiederhergestellt sind.[745] Jetzt zählen wir den Inhalt der Mappe ab, damit Sie, wenn wir zu Tisch sitzen, Ihr Vermögen kennen und der Sorge dieses Tages ledig sind!«

Ich errichtete nun zwei Haufen für die leichtere und schwerere Ware und warf die Blätter nach ihrer Beschaffenheit ohne langes Besinnen auf einen derselben. Der Graf rettete mehrmals ein zu leicht erfundenes Blatt und legte es auf die bessere Seite. Am Ende wurden beide Haufen gezählt und berechnet, worauf der Mann sich in ein inneres Zimmer begab und mit der Summe, die über anderthalbtausend Gulden anstieg, zurückkehrte. Er legte sie in Gold aufgezählt vor mich hin; ich dankte ihm mit freudeheißem Gesicht, zog mein Lederbeutelchen hervor, in welchem das kümmerliche Reisegeldchen weilte, nahm dieses heraus und tat das Gold hinein, von dem der Beutel ganz rund anschwellte. Ich wußte nun, daß ich in bessern Umständen nach Hause gehen und der Mutter einen Teil des für mich Geopferten wiederbringen konnte.

»Wie ist Ihnen jetzt zu Mut?« sagte der Graf, als er meine frohe Zufriedenheit bemerkte, da ich eine wirkliche Handvoll jenes Traumgoldes in der Tasche barg; »fahlen Sie nicht die Lust, abermals umzukehren und die Sache doch noch ein Weilchen fortzusetzen? Denn nach diesem Anfang, den herbeizuführen mir vergönnt ist, kann ja die Wendung zum Bessern leicht ihren Fortgang haben!«

»Nein, das wird sie nicht! Dazu trägt mir das ganze Abenteuer zu sehr das Gepräge einer Einzigkeit, die sich nicht wiederholt. Auch liegt mein Entschluß bereits in einer tieferen Schicht als in derjenigen des leidlichen Fortkommens; ich habe bessere Leute gesehen, als ich bin, die ihn ausgeführt haben, mitten in lohnender Tätigkeit, weil ihre Seele eben nicht recht dabei war.«

Ich erzählte ihm die Geschichte von Erikson und Lys. Er schüttelte aber den Kopf und meinte: »Diese Fälle sind ja unter sich verschieden und beide wieder von dem Ihrigen! Allerdings[746] sind auch Sie nicht einfach ein dummer Pfuscher, und wären Sie ein solcher, so hätte das Verlassen des Berufes gar keine Bedeutung und könnte uns hier nicht weiter beschäftigen. Allerdings, ich gestehe es, gefällt es mir unter Umständen sehr wohl und erscheint mir als ein Zug geistiger Kraft, ein Handwerk, das man versteht, durchschaut und empfindet, wegzuwerfen, weil es uns nicht zu erfüllen vermag. Allein Sie haben sich, wie mich dünkt, noch nicht genug geprüft. Gerade weil Sie die äußere Höhe, die Sicherheit jener beiden Männer noch nicht erreicht haben, scheinen Sie mir noch nicht berechtigt zu sein, den stolzen Schritt der Resignation zu tun!«

Ich lachte, indem ich an die Kostspieligkeit eines derartigen Verfahrens für meine Umstände dachte, sagte aber hievon nichts, sondern bemerkte bloß: »Sie täuschen sich, Herr Graf! Ich habe meinen bescheidenen Höhepunkt erreicht und kann wirklich nichts Besseres machen; ich würde auch unter günstigeren Verhältnissen höchstens ein dilettantischer Akademist werden, der etwas Absonderliches vorstellen will und nicht in Welt und Zeit paßt!«

»Nicht so! Ich sage Ihnen, es war nur Ihr guter Instinkt, der Sie nicht das Gewünschte zuweg bringen ließ. Ein Mensch, der zum Bessern taugt, macht das Schlechtere immer schlecht, solang er es gezwungen macht. Denn nur das Höchste, was er überhaupt hervorbringen kann, macht der Unbefangene recht; in allem andern macht er Unsinn und Dummheiten. Ein anderes ist es, wenn er aus purem Übermut das Beschränktere wieder vornimmt, da mag es ihm spielend gelingen. Und dies wollen wir, denk ich, noch versuchen! Sie müssen nicht so jämmerlich davonlaufen, sondern mit gutem Anstand von dem Handwerk Ihrer Jugend scheiden, daß keiner Ihnen ein schiefes Gesicht nachschneiden kann! Auch was wir aufgeben, müssen wir mit freier Wahl aufgeben, nicht wie der Fuchs die Trauben!«

Zu diesen Worten schüttelte ich meinerseits den Kopf, nur darauf bedacht, mit meiner unverhofften Beute die Heimat so[747] bald als möglich zu erreichen. Doch wurde das Gespräch durch die Ankunft eines geistlichen Herren, des Ortskaplanes, unterbrochen, der, durch den Küster von dem Erscheinen des abenteuerlichen Gastes unterrichtet, von seinem Rechte, sich nach Gefallen etwa zur Tafel einzufinden, Gebrauch machte, um die Neugierde zu stillen. Die Beine in hohe glänzende Stiefel gestellt, im wohlgebürsteten schwarzen Rocke, Hut und Stock in der einen Hand, schwenkte er die andere im Bogen und stellte sich mit humoristisch tiefen Verbeugungen als den Abgesandten der Schloßdame dar. Sie ließ sagen, daß der Tisch gedeckt sei und sie uns auf der Gartenterrasse erwarte. »Denn«, sagte er scherzend, »ich ermüde nicht, ihre Ketten so lang zu tragen, bis ich sie daran in den Himmel hinaufgezogen habe!«

Ich wurde vorerst dem Herren bekannt gemacht, worauf wir uns nach dem bezeichneten Orte begaben. Das Fräulein spazierte auf der Terrasse in dem milden Sonnenscheine, der heut auf dem Lande lag. Sie begrüßte mich freundlich, sagte, wir hätten uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen, und frug, wie es mir gehe. Statt aber die Antwort abzuwarten, forderte sie den Kaplan auf, ihr den Arm zu geben, was derselbe mit einer sich immer gleichbleibenden spaßhaften Umständlichkeit tat, und so schritt sie dem Grafen und mir voran in das Haus und die breite Treppe hinauf, bis wir in das Speisezimmer gelangten. Schon dieser kleine Aufzug durch das stattliche Treppenhaus und die langen Korridore ließ mich an den Pfad der Mühsal denken, den ich vor kaum vierundzwanzig Stunden gewandelt, und als wir vier Personen nun um den runden Tisch saßen, von einem schwarzgekleideten stillen Manne bedient, der weiße Handschuhe trug, war ich ganz betreten von dem wunderlichen Schicksalswechsel, der doch wiederum mit meiner Hände Arbeit und den entschwundenen eigenen Lebensjahren zusammenhing. Das Mittagsmahl war indessen so wenig prunkhaft und weitläufig und der Ton so frei und unbefangen, daß ich mich bald dem[748] ruhigsten Behagen hingab und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ. Der Kaplan trug hauptsächlich die Kosten der Unterhaltung, indem er mit dem Fräulein zahlreiche Witzworte wechselte, deren Bedeutung mir nicht klar wurde.

»Sie müssen nämlich wissen«, wandte er sich unversehens zu mir, »daß unsere Gnädigste mich zu ihrem lustigen Rat, zu deutsch zu ihrem geistlichen Hofnarren erkoren hat und daß ich mich diesem schwierigen Amte nur unterziehe, um doch noch dero ungläubige Seele zu erretten, was keineswegs ausbleiben wird!«

»Glauben Sie's nicht!« sagte Dorothea; »Se. Ehrwürden spielen im Gegenteil mit mir, deren Seele sie ohnehin für verloren halten, wie ein mutwilliges Kätzlein einen Schmetterling zerpflückt!«

»Laßt euch nicht zu stark auf mit eueren Witzen, Leutchen!« warf der Graf dazwischen; »unser Freund hat's auch hinter den Ohren und führt ebenfalls einen Schalksnarren mit sich, mit dem er sich sogar in die Weltregierung einmischt.«

Er teilte den Tischgenossen den Vorfall mit dem Waldhüter und dem Totenkopfe mit. Die Verwunderung und der Beifall, welchen die Begebenheit fand, verlockten mich, nun die eigentliche Geschichte des Albertus Zwiehan, wie sie mir ein für allemal als fable convenue galt, vorzubringen, namentlich, wie er durch die beiden Schönen, Cornelie und Afra, oder vielmehr durch das Schwanken zwischen ihnen um Erbe und Leben gekommen sei. Dorothea hörte mit halbgeöffnetem Munde zu, während die blühenden Lippen ein Lächeln umspielte und in der Kehle kleine abgebrochene Glockentöne ein wirkliches Lachen verrieten, das sie aber nicht aufkommen ließ.

»Dem ist aber recht geschehen!« rief sie aus, »der war ja ein schändlicher Patron!«

»Ich möchte ihn nicht so grausam verurteilen«, wagte ich zu antworten; »nach Herkommen und Erziehung war er ja ein halber Wilder und tappte mit dem Egoismus eines Kindes nach[749] jeder Flamme, die vor ihm aufleuchtete, ohne zu wissen, was Liebe ist und daß die Dinger brennen!«

Über diesen kennerhaften Ausspruch wurde ich je doch selbst ganz heiß im Gesicht und bereute sogleich, ihn zum besten gegeben zu haben; nicht nur bemerkte ich, daß der Kaplan mit seiner von einem studentischen Säbelhiebe eingedrückten Nase ein humoristisches Gesicht gegen das Fräulein machte, sondern ich fühlte auch die Schwäche meiner eigenen Lebensgeschichten, ohne welche ich ja nicht hierher verschlagen worden wäre. Ich nahm mir im stillen vor, den Stab so bald als möglich weiterzusetzen, und als nach Tisch davon die Rede war, wie der Rest des Tages zuzubringen sei, drückte ich den Wunsch aus, vor allem einen Handwerker zu finden, der die Blendrahmen für die wiederherzustellenden Kartons anfertigen könne. Der Kaplan anerbot sich, mich zum Dorfschreiner zu bringen, welcher der einfachen Arbeit ohne Zweifel gewachsen sei. Als man nun auch der Unterlage für die zusammenzufügenden Fragmente gedachte, zeigte es sich, daß in der Pfarrwohnung, deren Unterhaltungspflicht dem Grafen als Patronatsherren oblag, soeben ein Tapezierer aus der Nachbarstadt beschäftigt war, die Wohnstube des Kaplans mit einem frischen Wandschmucke zu versehen.

»Er hat genug Papierwerk bei sich, um die Rahmen zu beziehen«, sagte der Geistliche, »langes Maschinenpapier, das er unter die Tapete legt, damit ich hübsch warm bekomme!«

»Das genügt mir nicht«, versetzte der Graf, »es muß ein festes Tuch sein, damit es vorhält. Da der Mann zugleich Matratzen macht, so wird er dergleichen wohl beibringen können. Indessen macht ihm Herr Lee vorläufig die nötige Bestellung. Dann mögen beide, der Tischler und der Tapezierer, jener mit den gehobelten Leisten, dieser mit dem Tuche, hierherkommen und die Rahmen unter Aufsicht nach den genauen Maßen zuschneiden und fertigmachen!«

Der Betätigung froh, begab ich mich mit dem Kaplan auf den[750] Weg nach dem sehr ansehnlichen Worte in welchem die Hauptkirche von neuerer Bauart stand. Den Namen führte es gemeinschaftlich mit dem Grafen- oder frühern Freiherrengeschlecht, und der Kaplan, der mich fortwährend kurzweilig unterhielt, zeigte mir auf einem Bergrücken die grauen Trümmer des ursprünglichen Stammsitzes. Vergnüglich besorgte ich unter seiner Führung das kleine Geschäft und kehrte nach einem langen Spaziergange, den ich für mich allein unternahm, in das Schloß zurück.

Der Graf war ausgeritten; nach dem Fräulein zu fragen, hielt ich nicht für schicklich. Ich verweilte daher einsam auf der Terrasse und besah mir die Abendwolken, diese freundlichen Begleiter, die sich unermüdlich auflösen und wieder bilden, um zu Tausenden von Malen die irrenden Augen an sich zu ziehen und auf sich ruhen zu lassen. Welch ein Haus halt, dachte ich, drin das unentbehrlichste Existenzmittel zugleich einen unerschöpflichen Überfluß an Schaugebilden schafft für arm und reich, jung und alt, in allen Lagen ein Spiegel des Gemütes und sein stiller Richter, der alles sieht!

Aus dieser sanftmütigen Betrachtung weckte mich Dorotheas elastischer Schritt, der mir bereits nicht mehr unbekannt war. Sie stieg rasch die Stufen der Terrasse herauf, mein schönes grünes Buch in der Hand.

»So allein läßt man Sie?« rief sie mir entgegen; »wissen Sie, wo ich herkomme? Von dem Kirchhof, dort habe ich in Ihrem Schreibbuche gelesen, die Geschichte von der kleinen Meret, die nicht beten wollte! Durfte ich es auch, und darf ich mehr darin lesen? Papa hat ein paar Stunden heute nachmittag darüber zugebracht und mir dann das Buch gegeben, damit ich die Geschichte lese. Sehen Sie, hier hab ich ein Efeublatt von einem Kindergrabe hineingelegt! Aber nun müssen Sie unsereinem auch die Hand geben, wenn man sich begegnet; denn nun sind Sie uns schon näher bekannt!«[751]

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 738-752.
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