11. Kapitel
Prüfe und mäßige all dein Verlangen!

[102] 1. Der Herr: Mein Sohn, du hast noch vieles hinzuzulernen, worin du noch lange nicht ausgelernt hast.

Der Mensch: Was ist das, Herr?

Der Herr: Das mußt du noch lernen: Mein Wohlgefallen als die einzige Richtschnur all deines Verlangens anzusehen. Das mußt du noch lernen: Nicht dich lieben, sondern meinen Willen in edlem Eifer vollbringen. Es fehlt bei dir nicht an Begierden, die dich schnell entzünden und mächtig treiben; aber prüfe dich genau, was dich denn eigentlich entzündet und treibt, meine Ehre, oder dein Nutzen. Bin ich es, dessen Ehre dich in Bewegung setzt, so wirst du jedesmal wohl zufrieden sein, ich mag es so ordnen oder anders; sobald du aber dich selbst suchst, und wäre dies Suchen noch so geheim: sieh! so ist es eben dies geheime Suchen deiner selbst, was dich fesselt und drückt.

2. Darum baue nicht sonderlich auf ein Verlangen deines Herzens, das du, ohne mich zuvor um Rat gefragt zu haben, in dir aufkommen ließest. Denn es kann dich bald gereuen, was du als das Bessere so hitzig suchtest; es kann dir bald mißfallen, was dir als das Schönere wohl gefiel. Du mußt nicht jeder Regung, die dir gut zu sein scheint, sogleich folgen, und nicht jede Empfindung, die dir zuwider ist, sogleich verwerfen. Du mußt auch in frommen Übungen bisweilen der vordringenden Begierde den Zaum anlegen. Sonst möchte das ungestüme Treiben dein Gemüt zerstreuen oder dein zuchtloses Betragen den Schwachen zum Ärgernisse werden, oder[102] der heftige Widerstand anderer dich selbst in Verwirrung und plötzlich zu Falle bringen.

3. Manchmal muß man aber Gewalt brauchen und den sinnlichen Begierden mannhaften Widerstand entgegen setzen und nicht darauf achten, was das Fleisch will oder nicht will, sondern mit allem Vermögen dahin arbeiten, daß das Fleisch, auch wider seinen Willen, dem Geist unterworfen wird. Und so lange muß die sinnliche Natur in Zucht gehalten, so lange zur Unterwürfigkeit gezwungen werden, bis sie sich zu allem bereitwillig zeigt, sich mit wenigem begnügen lernt, an dem, was einfach ist, Freude hat und sich kein Murren mehr gegen etwas Widriges erlaubt.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 102-103.
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