14. Kapitel
Erwäge die geheimen Gerichte Gottes!

[107] 1. Der Mensch: Herr, deine Gerichte donnern fürchterlich über meinem Haupte; mit Furcht und Zittern zermalmst du all mein Gebein, und tiefer Schrecken liegt auf meiner Seele. Ich stehe und staune und denke den schauerlichen Gedanken: In deinem Auge sind auch die Himmel nicht rein.

Wenn du an den Engeln Sünde gefunden hast und ihrer nicht schontest, was wird mit mir geschehen? Sterne sind vom Himmel gefallen, und ich, Staub der Erde, wie wag ich es, zu hoffen? Menschen, deren Handlungen den Schein des Guten hatten, fielen in den Abgrund des Bösen, und, die das Brot der Engel aßen, sah ich mit den Trebern der Schweine ihre Lust befriedigen.

2. So steht denn keine Heiligkeit fest, wenn du, Herr, deine Hand zurückziehst. So rettet denn keine Weisheit, wenn du nicht regierst. So hilft denn keine Stärke, wenn du nicht schützest. So dauert denn keine Keuschheit, wenn du sie nicht bewahrst. So nützt denn keine eigene Wachsamkeit, wenn dein heiliges Auge nicht wacht. Denn wenn uns deine Hand losläßt, so fallen wir ins Wasser und gehen unter; wenn uns deine Hand anfaßt, so kommen wir wieder ans Land und leben. Unsere Tritte schwanken hin und her, du befestigst sie. Unsere Herzen sind lau und werden kalt, aber du zündest sie wieder an.

3. Oh, wie kann ich gering und niedrig genug von mir denken? Wie muß ich es für gar nichts achten, wenn ich etwas Gutes zu haben scheine! Wie tief muß ich mich versenken in den Abgrund deiner Gerichte, o Herr, da ich an mir nichts anderes finde als Nichts und Nichts! Oh, eine unermeßliche Last liegt auf mir, ein uferloses Meer vor mir! Wie finde ich in mir überall nichts anderes als in allem Nichts! Wo sollte doch die eitle Ehre noch eine Falte finden, hinter der sie sich versteckte? Wo sollte noch ein Vertrauen auf meine Tugend[107] in mir Platz finden können? Verschlungen, verschlungen ist alles eitle Rühmen in dem Abgrunde deiner Gerichte über mich.

4. Was ist alles Fleisch vor deinem Angesichte? Wird sich ein Gefäß aus Ton rühmen gegen den, der es gebildet hat? Wie sollte eitles Ruhmgeschwätz ein Herz noch in die Höhe treiben können, das die Wahrheit einmal tief genug unter Gott gebeugt hat? Den die Wahrheit sich unterwürfig gemacht hat, den kann die ganze Welt nicht mehr zum Stolze erheben. Wer seine ganze Hoffnung auf Gott gegründet hat, den werden die Lobsprüche einer ganzen Welt nicht mehr bewegen können. Denn sieh! auch die da reden, sind alle nichts, verschwinden mit dem Schall ihrer Worte; aber die Wahrheit des Herrn, die bleibt ewig.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 107-108.
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