2. Kapitel
Die Wahrheit spricht in uns ohne Geräusch von Worten.

[84] 1. Der Mensch: Rede, Herr! denn dein Knecht hört. Ich bin dein Knecht, gib du mir Verstand, daß ich deine Zeugnisse verstehe. Neige mein Herz zu den Worten deines Mundes, wie Tau fließe deine Rede in meine Seele! Einst sprachen die Kinder Israels zu Moses (2. Mos. 20, 19): Rede du zu uns, und wir werden darauf achten; aber der Herr rede nicht mit uns, damit wir nicht etwa sterben.

Nicht so bete ich, o Herr, nicht so. Ich bete vielmehr wie der Prophet Samuel (1. Sam. 3, 9) mit seiner Demut und seinem regen Verlangen: Rede, Herr, denn dein Knecht hört. Nicht Moses oder der Propheten einer rede zu mir. Du, o Herr, du mein Gott, rede zu mir. Denn du bist das Licht, das alle Propheten erleuchtet, du bist der Geist, der zu allen Propheten gesprochen hat. Du kannst ohne sie durch dich allein mich vollkommen unterweisen; sie aber vermögen ohne dich nichts.

2. Sie können hochklingende Worte sprechen, aber den Geist geben sie nicht. Lieblich dem Ohre ist, was sie sprechen, aber das Herz des Hörenden bleibt kalt dabei, wenn du nicht mitsprichst. Buchstaben lehren sie, aber den Sinn öffnest du. Geheimnisse verkünden sie, aber den Schlüssel, der die Geheimnisse aufschließt, den hast du; du allein schließest auf, was verschlossen ist. Gebote verkünden sie im Lande, aber Kraft, sie zu halten, gibst du. Auf den Weg weisen sie mit dem Finger, aber Stärke zum Gehen gibst du. Sie wirken nur von außen, aber du wirkst im Inneren, unterweisest und erleuchtest die Herzen. Sie begießen das Äußere, du gibst das Gedeihen im Innern. Sie bringen den Schall des Wortes ins Ohr, du den Verstand in das Herz, daß wir auch verstehen, was wir hören.

3. Also nicht Moses rede zu mir, sondern du, mein Herr und Gott, du, die ewige Wahrheit, rede zu mir, damit ich[84] nicht wie ein unfruchtbarer Baum verwelke, und in der Sünde sterbe, wenn mich nur das Wort von außen mahnt und nicht das Wort von innen entflammt. Rede du zu mir, damit mir nicht zum Gerichte werde das Wort, das ich gehört und nicht befolgt, erkannt und nicht geliebt, geglaubt und nicht erfüllt habe. So rede also, Herr, dein Knecht hört, denn du hast Worte des ewigen Lebens. Rede du zu mir, damit meine Seele getröstet, mein ganzes Leben gebessert und dein Name gelobt, gepriesen und ewig verherrlicht werde.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 84-85.
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