21. Kapitel
Laßt uns ruhen in Gott, unserem höchsten Gut.

[117] 1. Der Mensch: Erhebe dich, meine Seele, über alle Dinge, und suche deine Ruhe immer nur im Herrn, und du wirst sie in ihm allein finden: denn er ist die ewige Ruhe aller Heiligen. Gib mir also, o du, die Liebe selbst und die Fülle aller Süßigkeit, Jesus Christus, gib mir Kraft, daß ich mich erhebe über alles Erschaffene, über alle Schönheit und Reize, über alles Heil und allen Segen, über alle Ehre und Herrlichkeit, über alle Macht und Hoheit, über alle Wissenschaft[117] und allen Scharfsinn, über alle Reichtümer und Künste, über alle Freude und Entzückung, über alles Lob und Jubelgeschrei, über alle Süßigkeit und Erquickung, über alle Verheißung und Hoffnung, über alle Verdienste und Wünsche, über alle Gaben und Geschenke, die du mitteilen kannst, über alle Himmelslust und Seligkeit, die die Seele fassen und genießen kann, endlich über alle Engel und Erzengel, über alle Heere des Himmels, über alles Sichtbare und Unsichtbare – gib mir Kraft, daß ich mich erhebe über alles, was du, mein Gott, nicht bist, und daß ich, erhaben über alles, was du nicht bist, in dir allein Ruhe suche und Ruhe finde.

2. In dir allein, o du mein Herr und Gott, kann ich Ruhe finden, weil du das beste, du das höchste, du das mächtigste, du das selbstgenügsamste und reichste, du das lieblichste Wesen und die Fülle des Trostes für alle anderen Wesen, du die Schönheit und die Liebe, du die Heiligkeit und die Herrlichkeit selbst bist. In dir allein ist alles Gute auf das vollkommenste vereinigt; in dir war immer alles Gute aufs vollkommenste vereinigt; in dir wird immer alles Gute aufs vollkommenste vereinigt bleiben. Was du mir also immer schenkst, oder von dir offenbarst und verheißest, so groß und wahr und gut es immer sein mag, so ist es doch noch viel zu gering für mein Herz, so lange du dich selbst mir nicht schenkst, dich selbst mir nicht zu sehen und zu genießen gibst. Denn dies mein Herz hast du viel zu groß geschaffen, als daß es in irgend einem Gut volle und wahre Befriedigung finden sollte, bis es über alle Geschöpfe und über alle deine Gaben sich emporgeschwungen und in dir allein seine ganze Ruhe und Seligkeit gefunden hat.

3. O du mein liebster Bräutigam, Jesus Christus, du heiligster Freund unsterblicher Seelen, du Gebieter und Beherrscher aller Geschöpfe! Wer gibt mir die Flügel der wahren Freiheit, daß ich auffliege zu dir und Ruhe und Seligkeit in dir finde? O wann wird es mir gegeben werden, von allem, was mich bindet und hemmt, frei zu sein, und zu schauen,[118] und zu erfahren, wie süß es ist, dich, mein Gott, zu genießen? Wann werde ich mein ganzes Wesen in dir allein sammeln und in Liebe zu dir meiner selbst vergessen und nichts als dich, dich empfinden und genießen können, dich genießen auf eine Weise, die die Wenigsten kennen, und die alle gewöhnliche Weisen und Empfindungen übersteigt?

Jetzt ist Seufzen mein Los; mein Elend im Gefühle des Schmerzens tragen ist mein Tagewerk. Überall begegnet mir in diesem Tale des Jammers Jammer genug; Übel genug, die mein Herz verwirren, betrüben und verfinstern, hindern und zerstreuen, locken und gefangennehmen, daß ich nicht freien Zutritt zu dir finden, nicht deine freundlichen Umarmungen genießen, nicht immer im Chor der seligen Geister mitsingen kann. Möchte es dich rühren, wenn du mein Seufzen hörst, mein Leiden in dem Lande der Trostlosigkeit siehst!

4. Jesus! Du Abglanz der ewigen Herrlichkeit, du Trostquelle für alle Seelen im Pilgergewande! Meine Zunge findet kein Wort vor dir, und nur mein Schweigen redet zu dir! Wie lange zögert noch mein Herr mit seinem Kommen? Ach! daß er käme zu seinem Armen und froh machte den Traurigen! Daß er ausstreckte seine Hand und herausrisse aus all seiner Angst den Geängstigten! Komm, komm doch bald, denn ohne dich, du meine Freude, geht für mich kein Freudentag mehr auf; ohne dich schlägt keine Freudenstunde mehr für mich, und leer ist ohne dich mein Tisch. Elend bin ich, bin wie eingekerkert und mit Fesseln gebunden, bis mich das Licht deiner Gegenwart erquickt, deine Wahrheit frei macht, dein freundliches Angesicht den Himmel in meine Seele bringt.

5. Mögen andere ihr Paradies suchen, wo sie wollen, nur bei dir suchen sie's nicht; mir gefällt nichts mehr und kann nichts mehr gefallen, als du, mein Gott, meine Zuversicht, mein ewiges Heil! Nimmer schweigen, nimmer aufhören zu bitten will ich, bis deine Gnade wieder kommt, bis deine Stimme in mir wieder spricht.[119]

6. Der Herr: Sieh, da bin ich! Ich komme zu dir, weil du mich gerufen hast. Die Tränen deines Auges und das Sehnen deines Herzens, die Demut und die Zerschlagenheit deines Geistes neigten mein Herz und führten mich zu dir herab.

7. Der Mensch: Und ich sprach: Ja, ich habe dich gerufen, Herr, ich habe mich gesehnt, dich zu genießen, entschlossen, alles um deinetwillen zu verschmähen. Aber du hast mich zuvor geweckt, daß ich dich mit Inbrunst suchte. Dir sei also Lob und Dank, Herr, daß du nach der Fülle deiner Erbarmungen an deinem Knechte soviel Gnade bewiesen hast. Was darf ich noch sagen vor dir?

Dein Knecht hat kein anderes Wort mehr als: noch tiefer möcht ich mich vor dir erniedrigen; nie werde ich vergessen können, wie gering und böse ich bin; unter allen Wundern im Himmel und auf Erden ist keines so groß wie du selbst; gut sind alle deine Werke, heilig deine Gerichte, allumfassend deine Führungen; dir also, Weisheit des Vaters, dir sei Lob und Ruhm! Dich preise und lobe mein Mund und meine Seele, und alle Geschöpfe fallen zugleich in meinen Lobgesang ein!

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 117-120.
Lizenz:
Kategorien: