26. Kapitel
Von der Würde und Erhabenheit des freien Gemütes, das mehr durch demütiges Beten und Handeln, als durch fromme Lektüre und Denken errungen wird.

[127] 1. Der Mensch: Herr! Nur der vollkommene Mann kann sein Gemüt immer fest halten in Betrachtung himmlischer Dinge und inmitten vieler Sorgen gleichsam ohne Sorge wandeln, nicht etwa weil er träge und ohne Gefühl ist, sondern weil er ein freies Herz hat, und dies freie Herz sich keiner ungeordneten Neigung gefangen gibt.

2. Ich flehe zu dir, o mein Gott, du allerheiligstes Wesen, bewahre du mein Herz, daß es von Sorgen dieses Lebens nicht gebunden, von Bedürfnissen des Leibes nicht gefesselt, von Begierden des Fleisches nicht hingerissen, von Plagen der Zeit nicht niedergeschlagen und von unzähligen Hindernissen der Tugend nicht überwunden wird. Zwar haben für mich die Dinge, nach denen sich die Eitelkeit der Welt müde läuft, keinen sonderlichen Reiz mehr. Was mich aber zurückschlägt, daß ich mich nicht zur Freiheit des Gemütes, so oft ich gern wollte, emporschwingen kann, das ist das gemeinsame Elend, das mit dem sterblichen Leibe verbunden, nach dem Fluche, den die Sünde in die Welt gebracht hat, die Seele deines Dieners niederdrückt und hart beschwert.[127]

3. Oh, mein Gott, du unaussprechlich Gütiger! Verwandle alle sinnliche Lust, die mich durch den trügerischen Zauber einer flüchtigen Freude zu sich hin und von ewigen Gütern ablockt, verwandle mir alle diese Lust in Bitterkeit! Nicht mehr, ich flehe zu dir, mein Gott, nicht mehr soll mich Fleisch und Blut überwinden; nicht mehr soll mich die Welt mit ihrer kurzen Herrlichkeit blenden; nicht mehr soll mich der Teufel mit seiner Listigkeit hintergehen. Gib mir Kraft, die widerstehen, Geduld, die tragen, Beharrlichkeit, die bis ans Ende ausharren kann. Laß mich statt aller Freuden der Erde die Salbung deines Geistes erfahren, die an innerer Lieblichkeit alles Liebliche übertrifft. Laß statt fleischlicher Liebe die heilige Liebe deines Namens mein Herz durchglühen.

4. Speise, Trank, Kleidung und was noch zur Unterhaltung des Leibes gehört, ist für einen Geist, der nur für das Ewige leben möchte, doch nur eitel Last und Plage. Gib, daß ich all diese unentbehrlichen Erhaltungsmittel des sterblichen Lebens mäßig gebrauche und nicht durch zu große Begierde bestrickt werde. Man darf auf der einen Seite nicht alles wegwerfen, weil die Natur doch gepflegt sein muß, und soll auf der andern Seite nach dem heiligen Gesetze nichts genießen, was zur Pflege des Leibes überflüssig und bloß zur Lust ist, weil sich sonst das Fleisch sogleich wider den Geist empört. Deine Hand, o Gott, leite und führe mich auch in dieser Sache, daß ich auf keiner Seite zuviel tue.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 127-128.
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