3. Kapitel
Höre Gottes Worte mit Demut – viele erwägen sie nicht.

[85] 1. Der Herr: Mein Sohn, höre meine Worte; sie haben an Süße und Lieblichkeit nicht ihresgleichen und übertreffen an Weisheit alles, was die Gelehrten und Weisen dieser Welt gelehrt haben. Meine Worte sind Geist und Leben, und wer ihres wahren Gehalts innewerden will, darf sie nicht auf die Waagschale des Menschen legen. Wer sie verstehen will, darf sie nicht nach seinen eitlen Neigungen dolmetschen; sie wollen in der Stille des Geistes gehört und mit aller Demut und Inbrunst des Herzens aufgefaßt werden.

2. Der Mensch: Da sagte ich: Selig, den du unterweisest, o Herr, den du dein Gesetz verstehen lehrst, damit er in den heißen Tagen der Not Kühlung finde und im dürren Lande nicht verschmachte.

3. Der Herr: Ich bin's, spricht der Herr, der von Anfang her die Propheten gelehrt hat, und noch bis jetzt höre ich nicht auf, zu allen Menschen zu reden. Aber viele haben für mein Wort nichts als taube Ohren und verschlossene Herzen. Die meisten hören die Welt lieber als Gott, leben mehr nach den Lüsten ihres Fleisches als nach Gottes Wohlgefallen. Die Welt verheißt nur zeitliche und unbedeutende Güter und hat doch die eifrigsten Diener. Ich verheiße das allerhöchste[85] und ewige Gut, und die Herzen der Menschen bleiben kalt und träge dabei. Wer dient und gehorcht mir in allem, was ich gebiete, mit dem treuen Eifer, den die Kinder der Erde in dem Dienste der Welt und ihrer Herren beweisen? Erröte, Sidon, ruft das Meer; und wenn du nach der Ursache fragst, so höre die Ursache: Einer kleinen Pfründe wegen läuft man weit und breit umher, und um des ewigen Lebens willen wollen viele nicht einmal einen Fuß von der Erde aufheben. Für nichtswürdige Dinge laufen sie sich müde, sie zanken und balgen sich um ein Groschenstück auf eine niederträchtige Weise, sie mühen und plagen sich Tag und Nacht, um irgend eine verheißene Kleinigkeit, ein täuschendes Nichts zu erhaschen.

4. Aber, o Schande! für ein Gut, das ewig währt, für eine Belohnung, die unschätzbar ist, für die höchste Ehre, für eine Herrlichkeit, die kein Ende nimmt, sich auch nur ein wenig zu bemühen, ach! dazu sind sie viel zu träge. Erröte also, du fauler und mürrischer Knecht, daß jene weit geschäftiger an ihrem Verderben arbeiten, als du an deinem ewigen Heile. Jene haben mehr Freude an der Eitelkeit als du an der Wahrheit. Zwar schlägt ihnen ihre Hoffnung manchmal fehl, aber meine Verheißung täuscht keinen einzigen, und wer sich mir anvertraut, den läßt sie nicht leer ausgehen. Was ich versprochen habe, das werde ich geben; was ich gesagt habe, das werde ich erfüllen, wenn mir je einer in Liebe treu bleiben wird bis ans Ende. Ich bin's, der alle Guten reichlich belohnt, ich der alle Frommen strenge prüft.

5. Schreibe dir meine Worte ins Herz, und erwäge sie fleißig, denn zur Zeit der Versuchung werden sie dir unentbehrlich sein. Was du in der Stunde, wo du es liesest, noch nicht verstehst, das wirst du am Tage, wo ich dich heimsuche, schon verstehen.

Ich habe zweierlei Heimsuchungen für meine Freunde: eine heißt Versuchung, die andere Tröstung. Ich habe auch zweierlei Lektionen für sie, die ich ihnen täglich halte: die[86] eine, indem ich ihnen ihre Fehler verweise, die andere, indem ich sie zum Fortschreiten in allen Tugenden ermahne. Wer mein Wort hat, und es verachtet, der hat schon seinen Richter am jüngsten Tage.

Gebet um die Gnade der Andacht.

6. Der Mensch: Du mein Gott und Herr, all mein Gut bist du. Und was bin ich, daß ich mich unterstehe, mit dir zu reden? Ich bin dein ärmster Knecht, ich krieche auf Erden als ein verworfener Wurm, weit ärmer und verachtungswerter, als es mein Verstand denken kann und meine Zunge es auszusprechen wagen darf. Gedenke doch, Herr, daß ich nichts bin, nichts habe, nichts vermag. Du allein bist gut, gerecht, heilig. Du vermagst alles, gibst alles, erfüllst alles, den Sünder allein läßt du leer ausgehen. Gedenke deiner Erbarmungen, und erfülle mein Herz mit deiner Gnade. Du willst doch nicht, daß deine Werke vergeblich sind.

7. Wie könnte ich mich in diesem elenden Leben ertragen, wenn mich deine Erbarmung nicht stärkte, deine Gnade nicht hielte! Wende dein Angesicht nicht von mir; laß deine Heimsuchung nicht länger ausbleiben! Entzieh mir deine Tröstungen nicht, daß meine Seele nicht werde vor dir wie ein dürstendes Land ohne Regen.

Herr, lehre mich deinen Willen tun, lehre mich, wie es sich vor deinem Auge ziemt, und in Demut vor dir wandeln; denn du bist meine Weisheit; du kennst mich, was und wie ich bin, und kanntest mich, ehe ich zur Welt geboren, ja, ehe noch die Welt geschaffen war.[87]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 85-88.
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