31. Kapitel
Man soll alle Geschöpfe verlassen, um den Schöpfer zu finden.

[135] 1. Der Mensch: Gnade, noch größere Gnade habe ich nötig, o Herr, wenn ich dahin kommen soll, wo mich im Umgange mit dir kein Geschöpf mehr hindern kann. Denn solange mich noch irgend ein Geschöpf bindet, solange kann ich nicht frei zu dir auffliegen. Freien Flug zu dir wünschte sich der, welcher (Ps. 55, 7) sprach: »Wer gibt mir Taubenflügel? Dann will ich fliegen und Ruhe finden.« Was ist ruhiger als ein einfältiges Auge? Was ist freier als ein Herz, das von allen Dingen der Erde nichts mehr verlangt?

Man muß sich über alles Geschöpf erheben, muß sich von sich selbst vollkommen losmachen und in der Entrückung des Gemütes feststehen, und schauen und sehen, wie du, der Schöpfer aller Dinge, unvergleichbar höher und herrlicher bist als alle deine Geschöpfe. Und wer sich noch nicht von allen Geschöpfen losgemacht hat, der kann nicht frei zum Göttlichen streben. Eben deswegen kommen so wenig Menschen zu dieser himmlischen Beschauung, weil sich so wenig Menschen von dem Vergänglichen, von allen Geschöpfen vollkommen losmachen können.

2. Und dazu bedarfst du einer großen Gnade, die den Geist erhebt und über sich selbst entrückt. Und hat der Mensch diese Geisteshöhe noch nicht erreicht, ist er noch nicht von allen Geschöpfen frei und los und mit Gott eins geworden, so hat alles, was er weiß und tut, kein sonderlich großes Gewicht. Wer noch etwas anderes hochschätzt als das unermeßliche, ewige, Eine Gut, wird immer klein sein und tief unten liegen bleiben. Denn alles, was nicht Gott ist, ist nichts und[135] muß für nichts gehalten werden. Es ist aber zwischen der Weisheit einer erleuchteten und gottgeweihten Seele und zwischen der Wissenschaft eines gelehrten und in den Büchern erfahrenen Geistlichen ein himmelweiter Unterschied. Die Weisheit, die durch göttliche Eingebung von oben kommt, ist viel edler als die Wissenschaft, welche sich der menschliche Kopf durch mühsames Forschen selbst schafft.

3. Man findet viele Menschen, die sich die Gabe der Beschauung wünschen, aber auf der rauhen Bahn, die dazu führt, mögen sie sich nicht üben lassen. Das ist ein großes Hindernis, daß man so oft an Zeichen, Buchstaben und sinnlichen Dingen hängt und das Werk der vollkommenen Selbstverleugnung so nachlässig betreibt. Ich weiß nicht recht, was es ist, was uns eigentlich für ein Geist treibt, und was wir im Grunde wollen. Wir hätten es gern, daß man uns für geistlich gesinnte Männer ansähe, und doch wenden wir soviel Mühe und Sorgen auf vergängliche, nichtige Dinge und erforschen so selten in völliger Sammlung des Geistes unser Innerstes.

4. Ach leider! Wenn wir uns auch auf eine kurze Zeit in uns gesammelt haben, so brechen wir bald wieder auf nach draußen, und wir untersuchen unsere Handlungen nicht mehr so strenge vor dem Richterstuhle unseres Gewissens. Wir haben nicht acht, wie unsere Neigungen überall nur auf der Erde kriechen, und beweinen das Elend nicht, daß alles, was die Menschen tun, so unrein ist wie ihre Neigungen.

Alles Fleisch hatte einst seinen Weg verdorben, und eben deswegen mußte die große, strafende Flut über das Geschlecht der Menschen hereinbrechen. Da nun unsere Neigung durch und durch verdorben und befleckt ist, so muß alles daraus folgende Handeln auch verdorben und befleckt sein, muß die Spur der zerrütteten inneren Kraft an sich tragen. Das gute Leben ist eine Frucht, die nur aus dem reinen Herzen hervorwächst.

5. Man fragt zwar hier und da, was und wie viel ein Mensch getan hat; aber, wie groß und rein die innere Tugend-Kraft[136] ist, die diese äußere Handlung hervorgebracht hat, das wird nicht so fleißig in Erwägung gezogen. Ob einer stark am Leibe, reich, schön, geschickt, ein guter Schriftsteller, ein guter Sänger, ein berühmter Künstler ist, danach fragen die Leute. Ob einer aber die rechte Armut des Geistes besitzt, geduldig, sanftmütig, andächtig und in das geheime, gottselige Leben des Geistes eingeweiht ist, darüber wird geschwiegen. Die Natur sieht auf das Äußere des Menschen, aber die Gnade wendet sich zum Inneren. Die Natur täuscht sich oft; die Gnade aber hofft auf Gott, daß sie nicht betrogen werde.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 135-137.
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