32. Kapitel
Verleugne dich selbst und entsage aller ungeordneten Begierde!

[137] 1. Der Herr: Mein Sohn, die vollkommene Freiheit kannst du nicht besitzen, wenn du dich nicht zur vollkommenen Verleugnung deiner selbst durcharbeitest. Sklavenfesseln tragen alle, die eigensüchtig an irgendeinem Ding hangen, die sich selbst lieben, die lüstern und neugierig sind, die viel umherschwärmen, nur suchen, was ihren Sinnen schmeichelt, und nicht was Jesu Christi ist, die immer das bauen und befestigen wollen, was keinen Grund und Bestand hat. Zu nichts wird ja alles, was nicht aus Gott geboren ist. Halte dich an das kurze, aber allessagende Wort: Verlaß alles, dann findest du alles; gib Abschied der Begierde, dann kommt dir die Ruhe entgegen. Dieses Wort überdenke; und wenn du dieses Wort erfüllt haben wirst, dann wirst du alles verstehen.

2. Der Mensch: Mein Herr, das ist keine Arbeit für Einen Tag und kein Spiel für Kinder. In dieser Schale liegt ja der ganze Kern der Vollkommenheit für alle, die Gott, den Herrn, suchen.

Der Herr: Mein Sohn, das soll dich nicht zurückschrecken,[137] noch mutlos machen, wenn du von dem Wege der Vollkommenheit reden hörst; soll dich vielmehr reizen, nach dem höheren Ziel emporzuklimmen, oder wenigstens ein herzliches Sehnen nach diesem Ziele in dir zu unterhalten. Oh, daß es doch so gut mit dir stünde, daß du doch schon so weit gekommen wärest, daß du frei von der blinden Liebe zu dir selbst fertig stündest, und gefaßt auf meinen Wink und auf den Wink meines Vaters, den ich dir geoffenbart habe! Dann könnte mein Auge mit Wohlgefallen auf dir ruhen; dann würde dein ganzes Leben in Fried und Freude vorübergehen. Aber du hast in dir noch viel, viel zu verleugnen; und wenn du nicht alles mir ganz allein anheimstellst, so wirst du nicht finden, was du suchst. Laß dir meinen Rat heilig sein: Kauf dir von mir geläutertes Gold, das dich reich macht, das ist: die himmlische Weisheit, die alles Irdische mit Füßen tritt. Gib alle irdische Weisheit, alle Menschen- und Selbst-Gefälligkeit daran.

3. Ich sagte: Du sollst das, was im Auge der Menschen hoch und köstlich ist, darangeben, und etwas, das im Auge der Menschen schlecht und nieder ist, dafür kaufen. Denn schlecht und gering im Auge der meisten Menschen und fast ganz aus ihrem Andenken gerückt ist die wahre, himmlische Weisheit, die gering von sich denkt und auf Erden nicht groß heißen will; eine Weisheit, die viele mit ihrer Zunge rühmen, aber mit ihrem widersprechenden Wandel lästern, die aber desungeachtet die köstlichste Perle ist, verborgen vor den Augen der Vielen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 137-138.
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