34. Kapitel
Dem Liebenden schmeckt Gott über alles und in allem.

[140] 1. Der Mensch: Mein Gott und mein Alles! Was will ich mehr, und was kann ich Seligeres wünschen? O Wort voll Süße und Lieblichkeit, aber süß und lieblich nur dem, der das ewige Wort lieb hat, und nicht die Welt, und nicht die Güter der Welt! Mein Gott, mein Alles! Es ist mit diesem Worte genug gesagt dem, der es versteht, und wer die Liebe hat, der hört es immer gern, wenn es wieder und wieder gesagt wird. Denn wenn du, mein Gott, da bist, ist alles lieblich und süß; bist du ferne, so ist alles bitter und ekelhaft. Du machst das Herz still und schaffst großen Frieden und festliche Freude. Du gibst es uns in das Herz, daß wir alle Dinge gut finden und dich in allen Dingen loben. Ohne dich kann uns nichts auf die Dauer gefallen. Und wenn uns irgend etwas angenehm und schmackhaft werden soll, so darf deine Gnade nicht fehlen; es muß durch deine Weisheit gewürzt werden.

2. Wer an dir Geschmack findet, was soll dem keine Freude schaffen? Und wer an dir keinen Geschmack findet, was soll dem Freude schaffen? Doch alle die, welche nur an der Weisheit der Welt oder an der groben Lust der fünf Sinne Geschmack finden, erliegen, fern von deiner Weisheit, auf ihrer mühsamen Bahn, weil sie in der Weisheit der Welt nichts als Eitelkeit und Eitelkeit, und in den Freuden der fünf Sinne nichts als Tod und Tod finden können. Die aber, welche durch Verschmähung der Weltfreuden und durch Abtötung der Fleischeslust dir nachfolgen, die beweisen, daß sie die rechte Weisheit besitzen, weil sie von der Eitelkeit zur Wahrheit, vom Fleische zum Geiste durchgedrungen sind. Die haben Geschmack an Gott, und was sie in den Geschöpfen Gutes finden, das legt ihnen einen neuen Lobgesang auf ihren Schöpfer in den Mund. Dieser Geschmack an dem Schöpfer, an der Ewigkeit und an dem unerschaffenen Lichte, wie ist[140] er doch so durchaus verschieden von dem Geschmack an den Geschöpfen, an der Zeit und an dem erschaffenen Lichte.

3. O ewig leuchtendes Licht, über alles erschaffene Licht erhaben! sende deinen Strahl aus der Höhe wie einen Blitz in mein Herz und laß ihn in das Allerinnerste meines Herzens dringen! Reinige, erhelle, belebe und erfreue meinen Geist und alle seine Kräfte, daß sie dir im Jubel der Entzückung ewig anhangen.

Oh, wann wird sie denn kommen, die selige, sehenswürdige Stunde, daß mich deine Gegenwart sättigt, daß du mir alles in allem wirst! Ohne diese Gabe fehlt mir noch immer die Fülle der Freuden. Ach! noch lebt der alte Mensch in mir, noch ist er nicht vollends gekreuzigt, noch ist er nicht völlig erstorben. Noch ist er stark genug, sich mit seinen Lüsten wider den Geist zu empören, Kriege über Kriege zu erregen und das Reich der Seele zu beunruhigen.

4. Aber du, der du Gewalt hast über die Gewalt des Meeres und sänftigst die wildtobende Flut, mache dich auf und hilf mir! Zerstreue die Völker, die Krieg wollen, und zermalme sie mit deiner allzermalmenden Kraft. Zeige, zeige diese deine Allmacht, und verherrlicht werde deine Rechte: denn all meine Hoffnung, all meine Zuflucht bist du, mein Gott und mein Herr, du allein!

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 140-141.
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