43. Kapitel
Warnung vor der eitlen, zeitlichen Wissenschaft.

[152] 1. Der Herr: Lieber Sohn! laß dir durch die schönen, feinen Sprüche der Menschen deinen geraden Sinn nicht verwirren, denn das Reich Gottes besteht nicht in Wort und Schall, sondern in Kraft und Tat. Merke du auf mein Wort, das die kalten Herzen entzündet, die finsteren Geister erleuchtet, die harten Gemüter zu Tränen der Reue auflöst und die müden, beladenen Seelen mit himmlischen Tröstungen stärkt. Lies aber nicht in meinem Worte, um dir den eitlen Anstrich geben zu können, als wenn du gelehrter oder weiser wärest als andere. Alles, was Sünde in dir ist, zu ertöten: das sei deine Gelehrsamkeit. Denn das nützt dir mehr, als wenn du all die spitzigen Fragen der Gelehrten nach der Länge und Breite innehättest.

2. Wenn du wirklich viel liesest und viel verstehst, so mußt du all dein Lesen und all dein Verstehen jedesmal zur Einen Quelle aller Wahrheit zurückführen. Ich bin's, der die Menschen Weisheit lehrt und dem Unmündigen hellere Einsichten gibt, als Menschen von Menschen wohl je erhalten können. Zu wem ich rede, der wird bald weise sein und im Geiste große Fortschritte tun.

Wehe denen, die so gern zu ihresgleichen in die Schule gehen, um ihre Neugier zu befriedigen und nach dem rechten Weg, mir zu dienen, keine Nachfrage halten! Kommen wird die Zeit, wo Christus, der Lehrer aller Lehrer und der Herr der Engel, erscheinen wird. Da wird ihm jeder aufsagen müssen, was er gelesen hat, das heißt: Christus wird die geheimsten Winkel des Gewissens in jedem Menschen durchforschen, wird Jerusalem mit Leuchten durchsuchen. Dann wird alles, was im Finstern verborgen war, im Lichte liegen; dann werden alle Menschenzungen mit ihren Beweisen verstummen müssen.

3. Ich bin's, der den Demütigen in Einem Augenblicke so[152] hoch erheben kann, daß er in die ewige Wahrheit tiefer hineinschaut, als wenn er zehn Jahre in Schulen geschwitzt hätte. Wo ich lehre, da rauschen keine Worte, da durchkreuzen sich keine Meinungen, da bläht sich keine Eitelkeit, da fechten keine Schulgründe.

Ich bin's, der die Menschen lehrt, das Vergängliche zu verschmähen und das Unvergängliche hochzuachten, Ekel an dem Gegenwärtigen und Geschmack an dem Ewigen zu haben, Ehre zu fliehen und Ärgernisse zu erdulden, außer mir nichts zu verlangen, auf mich allein alle Hoffnung zu bauen und mich über alles mit Inbrunst des Herzens zu lieben.

4. Ich habe einen Freund; dieser liebte mich innigst, und lernte durch diese innige Liebe göttliche Dinge kennen und Wunderbares reden. Alles verlassen, das brachte ihn in der rechten Erkenntnis viel weiter als das tiefste Forschen.

Zu diesen rede ich von allgemeinen, zu jenen von besonderen Dingen. Einigen erscheine ich in Zeichen und Bildern; anderen decke ich im hellen Lichte Geheimnisse auf. Im Grunde haben zwar alle heiligen Bücher Eine und dieselbe Stimme, aber diese Eine Stimme unterweist nicht alle gleich, weil ich, der eigentliche Lehrer, im Inwendigen des Menschen die rechte Wahrheit bin, ich die Herzen erforsche, ich die Gedanken verstehe, ich die Taten fördere, ich jedem das mitteile, was ich für gut finde.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 152-153.
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