46. Kapitel
Vertrau auf Gott, wenn du beleidigt wirst.

[157] 1. Der Herr: Mein Sohn! steh fest und hoffe auf mich. Denn was sind alle die Menschen-Worte anders als Worte? Durch die Luft fliegen sie, aber sie können keinem Steine schaden. Hast du gefehlt, so laß es deine erste Sorge sein, deinen Fehler wieder gut zu machen. Bist du dir keines Fehlers bewußt, so sieh zu, wie du es aus Liebe zu Gott willig ertragen kannst.

Die Menschen Arges von sich reden lassen, heißt doch im Grunde wenig genug leiden; du bist offenbar noch nicht stark genug, schwere Schläge auszuhalten. Und warum greifen dir denn so geringe Leiden so tief in dein Herz ein? Doch bloß deswegen, weil du noch unter der Herrschaft des Fleisches stehst, noch auf Menschenurteil ein größeres Gewicht legst, als du nach aller Vernunft darauf legen solltest. Du hast noch eine so kindische Furcht vor den verachtenden Blicken der Menschen, deswegen willst du dich wegen deiner Fehltritte nicht tadeln lassen; deshalb willst du deine Blößen mit Entschuldigungen so künstlich zudecken.

2. Kehre nur den schärferen Blick in dein Herz, und du wirst deutlich sehen, daß die Welt und die eitle Begierde, den Menschen zu gefallen, in dir noch wohl bei Leben sind. Denn da du vor Erniedrigung und Beschämung, die deine Fehler verdient haben, zurückbebst, so gibst du dadurch klar zu verstehen, daß du die wahre Demut noch nicht besitzest,[157] daß du der Welt noch nicht gestorben und die Welt dir noch nicht gekreuzigt ist. Horch du nur auf Ein Wort aus meinem Munde, und zehntausend Menschenworte werden dein Herz nicht besorgt machen können. Sieh, wenn alles Böse, was die sinnreichste Bosheit ersinnen könnte, wider dich ausgestreut würde, was würde es dir denn schaden können, wenn du alles vorübergehen ließest, oder wenn dein Herz an all den Lästerworten so wenig Anteil nähme, wie an einem Grashalm auf der Wiese draußen? Könnte dir das alles auch nur Ein Haar deines Hauptes ausreißen?

3. Aber, wer sein Herz nicht bei sich daheim und seinen Gott nicht immer vor Augen hat, den kann ein leichtes Wort des Tadels aus aller Fassung bringen. Wer aber auf mich vertraut und nicht auf seinem eigenen Urteil bestehen will, den wird kein Menschenwort so leicht in Furcht und Schrecken jagen können. Denn ich bin der Richter; ich weiß um alle Geheimnisse; ich weiß den Gang der Sache; ich kenne beide, den, der verleumdet, und den, der die Verleumdung still erduldet. Das Wort, das dich so tief verwundete, ging von mir aus. Ich ließ ihm freien Lauf, damit sich die geheimsten Gedanken in vielen Herzen offenbarten. Ich werde einst den Schuldigen und den Unschuldigen öffentlich richten und habe jetzt nur in geheimem Gericht beide vorher erproben wollen.

4. Das Zeugnis des Menschen trügt oft, aber mein Urteil ist wahr, bleibt ewig wahr und kann durch kein anderes Urteil umgestoßen werden. Mein Urteil ist zwar für die meisten Menschen ein Geheimnis, und nur wenige haben Licht genug, es im einzelnen zu verstehen. Aber die lauterste Wahrheit ist es immer, und es irrt nicht und kann nicht irren, wenn es gleich im Auge des Toren irrig zu sein scheint. Du mußt also bei allen Urteilen zu mir deine Zuflucht nehmen und nicht auf deiner eigenen Meinung bestehen. Denn der Gerechte bleibt heiter und unverwirrt in allem, was der Herr über ihn kommen läßt. Es kränkt ihn nicht sonderlich, auch wenn ihn seine Zeitgenossen wider alle Gerechtigkeit verdammen. Er hat aber auch keine eitle Freude daran, wenn ihn andere[158] mit Grund in Schutz nehmen. Denn er erwägt es, daß ich es bin, der die Herzen erforscht und die Nieren prüft, der nicht nach dem Angesichte des Menschen und nach dem menschlichen Schein richtet. Denn oft finden meine Augen da noch eine Schuld, wo das menschliche Gericht nichts als Unschuld findet.

Gebet.

5. Der Mensch: Oh, mein Gott und Herr! Du gerechter, starker und langmütiger Richter! Du kennst die Gebrechlichkeit und den bösen Sinn der Menschen. Sei du meine Stärke, du mein ganzes Vertrauen. Denn mein Bewußtsein genügt mir nicht. Du weißt, was ich nicht weiß. Deswegen hätte ich mich auch bei allem Tadel erniedrigen sollen, und ich hätte ihn in stiller Sanftmut ertragen sollen. Verzeih es mir auch gnädiglich, so oft ich anders gehandelt habe, und schenke mir neue Kraft zu neuer größerer Geduld. Denn die Fülle deines Erbarmens taugt ungleich besser zur Vergebung aller meiner Sünden, als meine vermeinte Gerechtigkeit zur Rechtfertigung der Fehler, die in meinem Gewissen keine Spur zurückgelassen haben. Und ob ich mir gleich keiner Sünde bewußt bin, so kann ich mich selbst deshalb doch nicht rechtfertigen. Denn käme uns deine Barmherzigkeit nicht zu Hilfe, so würde kein Mensch vor deinem Angesicht bestehen können.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 157-159.
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